Nationalstaat und Demokratie - aus kärtnerslowenischer Sicht

Interview mit Albert F. Reiterer in der slowenischen Zeitschrift Novice

Sie haben in den 1980er und 90er Jahren drei umfangreiche Studien veröffentlicht, in deen Sie sich mit der Lage der Kärntner Slowenen auseinandersetzten. Seither ist einige Zeit ver­gangen. Inwiefern verfolgen Sie noch die gegenwärtigen Entwicklungen bei der slowenischen Minderheit und welche Prozesse scheinen Ihnen besonders kennzeichnend zu sein?

Mit dem konkreten Geschehen in Kärnten und der slowenischen Minderheit habe ich mich in den letzten Jahren kaum mehr auseinandergesetzt. Die Einigung über die Ortstafelfrage vor gut acht Jahren – die ich als akzeptabel betrachte – hatte eine paradoxe Folge. Die Sprecher der Minderheit, und zwar alle Verbände, haben danach jeden politischen Anspruch aufgegeben. Damit hat für mich die Sache an politisches Interesse verloren. Wenn ich heute einen distanzierten Blick auf ethnische Entwicklungen machen will, sagen andere Verhältnisse mehr aus. Die neuen sozialen Minderheiten aus der Einwanderung sind entschieden wichtiger. Die Sprachenfrage allein hat einen so ausschließlich symbolischen Wert, dass man sie als Fetisch fast vernachlässigen kann.

 

Bei einem Vortrag in Tainach vor zwei Jahren, kritisierten Sie eine politische Strategie, die autochthone Minderheiten wie zivilgesellschaftliche Vereinigungen behandeln möchte. Was ist daran so verwerflich?

Ich finde eine vollständige, assimilatorische Integration nicht moralisch verwerflich. Aber es sollte doch zu denken geben, dass sie mit solcher Kraft von den Vertretern der Mehrheit eingefordert wird, z. B. von hohen Beamten. Steigen die Vertreter der Minderheiten darauf ein, so geben sie jeden politischen, jeden Emanzipations-Anspruch auf. Ein Bestehen auf der ethnischen Identität und Erkennbarkeit in Elementen der Autonomie wäre dagegen ein Störfaktor in der allgemeinen Zufriedenheit mit der besten aller Welten heute. Freilich: Wie lange ist ein solcher Anspruch aufrecht zu erhalten? Nationenbau hat, ebenso wie die Bildung von Großgesellschaften, eine assimilatorische Komponente. Der Witz dabei war und ist: Gibt es Zwang dabei, wie in den früheren Phasen des nationalen Aufbaus? Solange Minderheitenrechte auf Widerstand stoßen, solange sie nicht gleichsam achselzuckend hingenommen werden, ist Zwang dabei. Wenn ein Vertreter der Staatsmacht also eine „Entnationalisierung“ von Sprachen- und Schulfragen will, ist Vorsicht angebracht. Das ist ein heuchlerischer Zungenschlag.

 

Ein Bereich, den Sie in ihrer Forschung stets in den Mittelpunkt rücken, ist die Sozialstruktur und die damit zusammenhängende Ungleichheit. Wir befinden uns seit mehreren Jahrzehnten in einer Phase, in der die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung zunimmt. Was sind die wesentlichen Triebfedern dieser Entwicklung?

Ungleichheit stand seit je, und steht heute mehr den je, im Zentrum meiner politischen Überlegungen. Etwas pathetisch: Ungleichheit ist das Problem der Menschheit seit ihren historischen Anfängen. Ungleichheit ist das Gegenteil von allgemeiner Menschlichkeit. Man kann die Geschichte, als eine Geschichte von Klassenkämpfen, als einen Kampf für Gleich­heit und eine Entwicklung hin zur Gleichheit lesen.

Den hegemonialen Strömungen der unmittelbaren Gegenwart ist es gelungen, Verwirrung zu stiften. Sie schieben zwei völlig verschiedene Konzepte ineinander. Sie setzen Ungleichheit, Differenz, in eins mit Individualität, Diversität. Sie rechtfertigen die ungleiche Ausstattung mit Lebens-Chancen und mit Ressourcen mit der Einzigartigkeit und Verschiedenheit jedes Menschen. Auf diese skandalöse und zynische Weise wollen sie sich selbst und ihre Privilegien retten.

Ethnische Identität war im Minderheiten-Kontext immer auch Differenz. Es wäre das Ziel von ethnischer Politik, die Differenz, die ungleichen Lebens-Chancen also, aufzuheben, aber die Diversität, die soziale Individualität, als schätzenswerten Anteil an der eigenen persönlichen Individualität zu bewahren.

Das sozio-ökonomische System ist der harte „neoliberale“ Finanz-Kapitalismus. Er wird politisch abgesichert und institutionalisiert durch das globalistische Imperium. In Europa tritt dies auf als Europäische Union. Beide Strukturen verschärfen die bestehende Ungleichheit, im Vermögen, im Einkommen, in den Mitbestimmungs-Möglichkeiten. Für alle, die sich gegen eine solche Entwicklung stellen und soziale Gleichheit ebenso wie Menschenrechte und eine Förderung der Demokratie anstreben, ist dieses „Europa“ daher heute der Hauptgegner.

 

In Ihrem neuen Buch Nation und Imperium….setzen Sie sich mit der Frage auseinander, ob der Nationalstaat ein überholter Rahmen für Gesellschaft und Demokratie ist. Was macht diese Frage zu einem entscheidenden Faktor in der gegenwärtigen politischen Debatte und welche Rolle nehmen ethnische bzw. nationale Minderheiten dabei ein?

Nation und Nationalstaat waren jene Formen, in welchen sich die so unvollkommenen Realisierungen von Demokratie und Rückverteilung (Sozialstaat) abspielten. Gerade deshalb richten sich die Angriffe der Eliten und ihrer Sprecher, der mit ihnen verbündeten Intellektuellen, gegen sie. Mit dem Einsatz für nationale Souveränität verteidigen wir das erreichte Niveau der Selbstbestimmung. Wir wollen die Demokratie, immerhin inzwischen die Grundlage unserer Lebensform, nicht den Rechten überlassen, wie die mainstream-Intellektuellen.

Wie eine zukünftige politische Form von Demokratie oder Sozialismus aussehen könnte, wissen wir nicht. Aber wir wollen und müssen diese Debatte führen.

Nationale Bestrebungen, auch Minderheiten, sind ein wichtiger Faktor der sich gegen diese Dampfwalze quer legt, gegen die bewusstlose Entwicklung in die globale Tyrannei. Deswegen sehen wir die Entwicklungen bei den Katalanen oder in Schottland mit großer Sympathie. Das heißt keineswegs, dass wir alle ihre Ziele teilen. Die Idee etwa, die EU sollte ein Dach für die katalonische Unabhängigkeit bilden, ist wirklichkeitsfern und grundfalsch.

 

Sie betonen als politisch sehr weit links stehender Intellektueller, dass der Nationalstaat der unverzichtbarer Träger von Demokratie und Sozialstaat ist. Solche Positionen sind im linken Mainstream sehr selten zu hören. Was antworten Sie Kritikern, die Ihnen eine Hinwendung zum Nationalismus vorwerfen?

Der intellektuelle Hauptstrom hat sich seit einiger Zeit von jeder Idee einer politischen Emanzipation verabschiedet. Die historische Arbeiter-Bewegung ist erledigt. Die seinerzeitige kurzatmige Intellek­tuellen-Rebellion (die „68er“) hat ihre eigenen Ziele gefunden. Der lange Marsch durch die Institutionen als Alternative zur terroristischen Ersatz-Diktatur kleiner Gruppen verkam zur bequemen Integration in die Privilegien von Bürokratie und Akademia.

Die Unterschichten verloren dabei jede politische Repräsentation. In den 1980ern sprach man von der Neuen Arbeiterklasse. Heute heißt es verächtlich: „Modernisierungs-Verlierer“: Sie sind also selbst daran schuld, wenn man sie in den Orkus gestoßen hat. Diese Unterschichten und zunehmend auch die Mittelschichten, die immer mehr nach Unten gedrängt werden, brauchen eine neue Perspektive. Diese können sie nur auf nationaler Ebene finden, weil die supranationalen Strukturen vollständig von den Eliten und ihren Intellektuellen beherrscht werden. Das ist schlicht eine nüchterne Einschätzung der Kräfte-Verhältnisse. Eine neue Emanzipations-Bewegung muss auf nationaler Ebene beginnen. Dies war früher nicht anders: Die Erste Internationale war ein Verein von Emigranten und Intellektuellen in London. Erst die Zweite Internationale auf der Basis von nationalen Parteien wurde politisch wirksam.

Albert F. Reiterer (2019), Nation und Imperium. Reflexionen über die politische  Organisation der Weltgesellschaft. Linz: guernica.

Bestellungen an: office@guernica-verlag.at

Video von einer Veranstaltung mit Albert F. Reiterer in Klagenfurt im Dezember 2019