EU-Liberalisierung lies Bahn-Anteil am Güterverkehr sinken

Heimlich, still und leise sind in den vergangenen Monaten die unterschiedlichen Bestandteile des Vierten Eisenbahnpaketes in Kraft getreten. Die Liberalisierung der europäischen Bahnen hat damit einen neuen Höhepunkt erreicht. Hier eine Zwischenbilanz.

Die Liberalisierung der europäischen Eisenbahnen

Neoliberale Ideologen gehen davon aus, dass die öffentliche Hand keine guten Managementqualitäten hat und nur der Wettbewerb Produkte und Dienstleistungen besser und billiger macht. Diesem Dogma folgend, wurden auch die Bahnen mit bislang vier EU-Gesetzeskonvoluten – den sogenannten Eisenbahnpaketen - liberalisiert. Erklärtes Ziel war es, den Marktanteil der Bahn gegenüber dem Straßenverkehr zu verbessern. Beim Personenverkehr ist die Bilanz dazu durchwachsen, beim Güterverkehr aber eindeutig negativ. Die Krux: Man hat den Wettbewerb innerhalb des Bahnsektors forciert, dabei aber „vergessen“, faire Wettbewerbsbedingungen gegenüber der Straße herzustellen.

Kritische Infrastruktur

In Großbritannien wollte man bei der Privatisierung keine halben Sachen machen und hatte sogar die Infrastruktur – also Schienenwege und Bahnhöfe – verkauft. Nun sind dies langlebige Bauwerke, deren Instandhaltung sich erst über Jahrzehnte rechnet. Private Investoren folgen der Logik, möglichst viel Geld für die Benützung zu kassieren und nur wenig für Reparaturen auszugeben. In Großbritannien führte dies zu schweren Mängeln bei der Instandhaltung, was zwischen 1997 und 2000 zu einer Serie schwerer Unfälle mit insgesamt 42 Toten und über 700 Verletzten führte.

Die britische Regierung zog im Jahr 2001 die Reißleine und reverstaatlichte die Bahninfrastruktur. Auch in Neuseeland erwies sich für die Steuerzahler*innen der Verkauf und die darauffolgende Verstaatlichung des Schienennetzes als kostspieliges Experiment. Inzwischen hat sich allgemein die Meinung durchgesetzt, dass Schienenstrecken ein „natürliches Monopol“ sind, das man am besten in der öffentlichen Hand belässt.

Verlorene Synergien

Integrierte Bahnen – wie etwa die ÖBB, SBB (Schweizer Staatsbahn), Deutsche Bahn, aber auch Stern & Hafferl – verfügen über die Schienenstrecken, auf denen sie auch mit ihren Zügen fahren. Das schafft zahlreiche Synergien, da das System Bahn ganzheitlich betrachtet wird. So können Beschäftigte zwischen den einzelnen Teilbereichen relativ leicht wechseln. Da Personenzüge hauptsächlich tagsüber unterwegs sind, während Güterzüge primär in den Nachtstunden fahren, ist es effizient, Lokomotiven flexibel zu nützen. Folgerichtig verfügt die ÖBB-Personenverkehrs AG und die ÖBB-Güterbahn Rail Cargo Austria über einen gemeinsamen Lokpool. All diese sinnvollen Konstrukte waren der EU-Kommission bei der Abfassung des Vierten Eisenbahnpaket ein Dorn im Auge. Ähnlich wie beim Strommarkt, war vollständiges „Unbundling“ vorgesehen: Auf dem Monopol Schienennetz sollten viele unterschiedliche Eisenbahnunternehmen im Wettbewerb unterwegs sein. Bei integrierten Bahnen hatte man nämlich die Angst, dass jene die Mitbewerber diskriminieren würden. Mit großen Anstrengungen ist es jedoch gelungen, dass es auch nach Inkrafttreten des Vierten Eisenbahnpaketes noch integrierte Bahnen – wenn auch unter strengen Auflagen – geben kann.

Der vollständig liberalisierte Güterverkehr

Über viele Jahre war der Güterverkehr die „Cash Cow“ der ÖBB (und anderer Eisenbahnen). Das Geschäftsmodell sah folgenermaßen aus: Mit Ganzzügen, die – wie der Name sagt – als Ganzes von A nach B unterwegs sind, wurden gute Gewinne gemacht und damit der kosten- und arbeitsintensive Einzelwagenverkehr unterstützt. Unter Ganzzügen versteht man beispielsweise Kohlelieferungen aus Polen zur VOEST oder Containerzüge vom Hafen Rotterdam nach Wien. Einzelwagenverkehr bedeutet, dass man bei einem Sägewerk, einer Papierfabrik, einem Zementwerk oder dem Lagerhaus ein paar Waggons abholt, zu Zügen zusammenstellt und weitertransportiert.

Inzwischen ist der Güterverkehr auf der Schiene vollständig liberalisiert. Die Konsequenz: Neue Anbieter drängten in den Markt der Ganzzüge, die Tarife purzelten in den Keller. Das unattraktive und komplizierte Gröscherlgeschäft mit den Einzelwagen blieb den alten Staatsbahnen und wurde inzwischen kontinuierlich zurückgefahren. Das Ergebnis: Der Bahntransport wurde auf Strecken bzw. für Güter, bei denen die Straßen ohnehin keine Konkurrenz darstellt, unnötigerweise billiger. Insgesamt verschlechterte sich aber im Güterverkehr der Marktanteil in Richtung LKW-Verkehr, wo Ausbeutung und Sozialdumping Teil des Systems sind. Der europäische Binnenmarkt, aber auch die Globalisierung fußt auf der Voraussetzung, dass Transport möglichst billig ist; und das geht nur auf Kosten der Umwelt und der Verkehrsbeschäftigten.

 

Abbildung 1: Der Marktanteil der Schiene am Güterverkehr ist EU-weit in den letzten Jahrzehnten gesunken, jener des LKWs gestiegen. Das zur Erfolgsbilanz der Bahnliberalisierung.  

Modal Split Gütertransport

Quelle: https://ec.europa.eu/transport/facts-fundings/statistics/pocketbook-2019_en

 

Ausgeschriebener Personenverkehr

Guter und leistbarer öffentlicher Verkehr kann und muss nicht kostendeckend sein. EU-rechtlich wird deshalb zwischen gemeinwirtschaftlichen Verkehren – dieser werden von der öffentlichen Hand bestellt und finanziell unterstützt – und eigenwirtschaftlichen Verkehren unterschieden. Was ändert sich hier durch das Vierte Eisenbahnpaket? Bisher konnte ein Staat selbst entscheiden, ob er gemeinwirtschaftliche Eisenbahnverkehre direkt an ein Unternehmen seiner Wahl vergeben will oder eine Ausschreibung durchführen will. Direktvergabe hat den Vorteil, dass man mit einem Unternehmen, mit der es eine jahrelange vertrauensvolle Zusammenarbeit gibt, mit der Durchführung beauftragen kann. Es ist ja auch durchaus sinnvoll, wenn sich der österreichische Staat für die Züge der staatlichen ÖBB entscheidet. In Europas Bahnland Nr. 1 – also der Schweiz – wird dieses Erfolgsmodell ebenfalls angewandt (siehe Abbildung 2). Bei Ausschreibungen kommt hingegen meistens der Billigstbieter zum Zug. Da Rollmaterial, Schienenmaut und Energie für alle Bewerber in etwa gleich teuer sind, bleiben als wichtigste Stellschraube die Lohnkosten. Ausschreibungen führen also fast zwangsläufig zu Sozial- und Qualitätsdumping. Gute Arbeitsbedingungen werden so zu Wettbewerbsnachteilen pervertiert. Trotzdem wurden mit dem Vierten Eisenbahnpaket neue Hürden eingebaut, um das bewährte Instrument der Direktvergabe zu erschweren: In Zukunft muss man nachweisen, dass die Direktvergabe zu einer Qualitätsverbesserung führt. Bei Ausschreibungen muss man das bezeichnenderweise nicht.

 

Abb. 2:

Österreich in EU Bahnland Nr. 1

 

Quelle: https://www.schienencontrol.gv.at/files/1-Homepage-Schienen-Control/1f-Publikationen/SC-Jahresbericht-2019_Web.pdf

 

Aber auch beim eigenwirtschaftlichen Verkehr kommt es zu Änderungen: Bisher war die Betriebserlaubnis für die Westbahn AG eine liberalisierungsfreundliche Fleißaufgabe Österreichs. Nun ist dieses Geschäftsmodell ein EU-weites Faktum. Damit ist dem „Rosinenpicken“ – man sucht sich jene Strecken aus, die am profitabelsten sind – in der gesamten EU Tür und Tor geöffnet. Ein flächendeckender und kundenfreundlicher Taktverkehr ist so nicht zu verwirklichen.

Fazit

Die EU-Kommission verspricht sich durch die Liberalisierung des Bahnwesens stets das Erreichen ihrer verkehrs- und umweltpolitischen Ziele. Erfüllen sich die Erwartungen nicht, so werden unbeirrt und mit ideologischer Borniertheit die nächsten Liberalisierungsschritte eingeleitet. Denn in Wirklichkeit geht es darum, neue Geschäftsfelder für das Privatkapital zu öffnen und den Binnenmarkt mit möglichst geringen Transportkosten zu unterstützen. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis wir uns mit dem fünften Eisenbahnpaket herumschlagen müssen.

 

Heinz Högelsberger arbeitet in der Abteilung Umwelt & Verkehr der AK Wien

 

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