Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Staatliche Souveränität ist in der heutigen, zunehmend komplexen und eng verflochtenen internationalen Wirtschaft bedeutungslos geworden. Die Vertiefung der wirtschaftlichen Globalisierung – und die enormen Entwicklungsschübe in den Bereichen Massenverkehrsmittel, Kommunikation und Technologie – machen einzelne Staaten zunehmend zu Spielbällen der Kräfte des freien Marktes. Die Internationalisierung der Finanzbranche und die wachsende Bedeutung multinationaler Konzerne haben die Fähigkeit der Einzelstaaten schwinden lassen, eine eigenständige Sozial- und Wirtschaftspolitik – zumal der progressiven Art – zu betreiben und ihren Bevölkerungen Wohlstand zu sichern. Finanzmärkte und Großkonzerne üben heute mehr Macht aus als die Regierungen – und es ist ein Leichtes für sie, Regierungen in die Knie zu zwingen. Damit besteht unsere einzige Chance, die grenzüberschreitenden Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen, die Macht der weltweiten Finanz- und Wirtschaftsgiganten zu bändigen und einen tiefer gehenden Wandel herbeizuführen, darin, dass Länder ihre Souveränität ‘bündeln’ und auf supranationale Institutionen (wie die Europäische Union) übertragen, die groß und mächtig genug sind, um sich Gehör zu verschaffen, und damit auf supranationaler Ebene die Art von Souveränität erringen, die uns auf nationaler Ebene verloren gegangen ist. Anders ausgedrückt: Um ihre ‘faktische’ Souveränität zu bewahren, müssen die Staaten ihre formale Souveränität beschränken.
Diese Argumente klingen nicht zuletzt deshalb vertraut (und überzeugend), weil sie tagtäglich von Politikern und in der Presse vor allem in Europa vertreten und verbreitet werden. Besonders augenfällig wurde dies während der Debatten vor und nach dem Brexit. Eine einfache Google-Suche mit den Stichworten ‘Brexit’, ‘Souveränität’ und ‘Täuschung’ erbrachte Hunderte von Artikeln, darunter auch von angeblich progressiv eingestellten Verfassern, die sich über die Wähler und ihren Versuch lustig machten, wieder ‘die Kontrolle zu übernehmen’ – sie seien schlichtweg zu unbedarft, um zu bemerken, dass keine Souveränität mehr da sei, die man sich zurückholen könne, dass ‘es in der heutigen vernetzten Welt ein Hirngespinst ist, eine vermeintliche, längst der Vergangenheit angehörende wirtschaftliche Souveränität herzustellen’[fn]Desmond Cohen, ‘Economic Sovereignty: A Delusion’, Social Europe Journal, 12. September 2017.[/fn], und dass ‘das Bündeln von Entscheidungsprozessen und Ressourcen der einzige Weg ist, um die eigenen Interessen zu verteidigen’.[fn]Renaud Thillaye, ‘The Left Needs A Better Conversation On National Sovereignty’, Social Europe Journal, 6. November 2015.[/fn] Marlene Wind, Leiterin des Center for European Politics an der politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Kopenhagen, fasste es folgendermaßen zusammen: ‘Außerhalb der EU und ohne Einfluss auf die Spielregeln, nach denen sich die in der globalen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts bewegenden Staaten richten und definieren, wird [das Vereinigte Königreich] höchstwahrscheinlich sehr viel weniger souverän sein.’[fn]Marlene Wind, Why the British Conception of Sovereignty Was the Main Reason for Brexit – And Why the British ‘Leave-Vote’ May End Up Saving rather than Undermining the EU, CSF-SSSUP Working Paper No 3/2017, Centro Studi sul Federalismo, 2017.[/fn]
Bevor wir diese Behauptungen einer kritischen Prüfung unterziehen, ist eines festzuhalten: Diese Gedanken sind alles andere als neu. Tatsächlich stammen sie aus einer Zeit, die der ‘heutigen Welt’ – die doch angeblich die nationale Souveränität vor nie dagewesene Herausforderungen stellt – lange vorausgeht. Zudem weisen sie einen politisch wesentlich weniger korrekten Stammbaum auf, als ihre Verfechter (zu denen viele selbsternannte Progressive zählen) wahrhaben wollen. So war nach Ansicht von Joseph Chamberlain, britischer Kolonialminister und eingefleischter Imperialist, die Staatssouveränität bereits vor mehr als einem Jahrhundert auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. ‘Es ist die Zeit der großen Weltreiche, nicht der Kleinstaaten’, verkündete er im Jahr 1902. Dem britischen Historiker Robert Tombs zufolge ‘glaubte Chamberlain, dass die Menschen in einem supranationalen System unter der Leitung einer Elite von edler Gesinnung besser gestellt wären’ (wobei Großbritannien selbstredend die Führungsrolle zufiele).[fn]Robert Tombs, ‘Sovereignty still makes sense, even in a globalised world’, Financial Times, 7. Juli 2017.[/fn] Jedoch lassen sich unter den geistigen Vätern der Ideologie von Supranationalismus und Anti-Souveränismus durchaus peinlichere finden als Chamberlain. Zu ihnen zählen die Nazis und die italienischen Faschisten.
Wie der Wissenschaftler und Autor John Laughland in seinem 1997 veröffentlichten, erhellenden Buch The Tainted Source: The Undemocratic Origins of the European Idea darlegt, ist die landläufige Vorstellung von den Nazis als hysterischen, dem Nationalstaat huldigenden Nationalisten grundfalsch. ‘Weit davon entfernt, den Nationalstaat zu verherrlichen, sahen die Faschisten darin weitaus eher ein Hassobjekt’, schreibt Laughland. ‘Die Ablehnung des souveränen Nationalstaats als eines funktionsfähigen, eigenständigen politischen und wirtschaftlichen Gebildes war gang und gäbe im nationalsozialistischen und faschistischen Gedankengut’.[fn]John Laughland, The Tainted Source: The Undemocratic Origins of the European Idea, London: Warner Books, 1997.[/fn] Noch interessanter (und verstörender) ist, dass sie die Staatssouveränität aus genau denselben Gründen ablehnten, wie dies die zeitgenössischen Intellektuellen und Publizisten auch heute noch tun – nationale Souveränität ist in ihren Augen ‘von gestern’. Ähnlich wie die heutigen Supranationalisten waren die Faschisten fasziniert von moderner Technologie und wirtschaftlicher Vernetzung.
Einer der Hauptgründe, weshalb die Faschisten davon überzeugt waren, das Ende des Nationalstaats sei gekommen, lag in der technischen Entwicklung. Sie hielten das Konzept der Staatssouveränität schlicht und einfach für anachronistisch angesichts einer Moderne, die geprägt war durch voneinander abhängige Volkswirtschaften, weltweite Verkehrsverbindungen und elektronischen Nachrichtenaustausch.[fn]Ebd.[/fn]
So argumentierte beispielsweise Camillo Pellizzi, einer der führenden faschistischen Intellektuellen jener Zeit: ‘Auch heute schon, und umso mehr noch in Zukunft, kann keine einzige europäische Nation darauf hoffen, in militärischer, wirtschaftlicher oder kultureller Hinsicht mit den großen Mächten zu konkurrieren, die derzeit entstehen oder jetzt schon außerhalb Europas entstanden sind.’[fn]Quoted in Laughland, The Tainted Source.[/fn] Daher gelangten die Nazis zu dem Schluss, dass ‘die Entwicklung hin zu größeren Einheiten’ aus ökonomischer Sicht unumgänglich war.[fn]Ebd.[/fn] Zu diesem Zweck planten sie, eine neue europäische Wirtschaftsordnung zu schaffen, um der ‘wirtschaftlichen Balkanisierung Europas’ ein Ende zu bereiten.[fn]Ebd.[/fn] An dieser Stelle ist die Ähnlichkeit zwischen dem Gedankengut der Nazis und der pro-europäischen Haltung unserer Zeit geradezu frappierend. Im Jahr 1940 entwarf Reichstagspräsident Hermann Göring einen ausgeklügelten Plan zur ‘großangelegten wirtschaftlichen Vereinigung Europas’.[fn]Ebd.[/fn] Hierzu zählte die Einrichtung einer Zollunion, eines europäischen Binnenmarktes, eines europäischen Verrechnungssystems und fester Wechselkurse zwischen den einzelnen Ländern, ‘mit der Perspektive einer europäischen Währungsunion’.[fn]Ebd.[/fn] Die Pläne der Nazis zur europäischen Integration waren jedoch nicht allein ökonomischer, sondern auch politischer Art. So erklärte Heinrich Hunke, Präsident des Berliner Unternehmerverbands: ‘Die Notwendigkeit einer politischen Ordnung für die wirtschaftliche Zusammenarbeit der Völker ist anerkannt’.[fn]Ebd.[/fn] Hunke zufolge bestand das Ziel letztlich darin, eine ‘politische Union in Europa’ zu errichten.[fn]Ebd.[/fn]
Wie wir alle wissen, endete das dystopische Wunschdenken der Nazis von einem vereinigten Europa (unter deutscher Oberherrschaft) in einem Alptraum von Tod und Zerstörung – ein Alptraum, der nicht durch die Irrationalität und Unordnung des Nationalstaatssystems ausgelöst wurde, wie dies die Föderalisten der Nachkriegszeit später behaupten sollten, sondern durch Hitlers wahnhaften Versuch, eben jenes System zu vernichten. Was dem Nachkriegssystem mit Sicherheit gelang, war der Nachweis, wie sehr die Nazis mit ihrer Behauptung irrten, der souveräne Nationalstaat sei veraltet: Zum einen fußte die auf Ford und Keynes zurückgehende politisch-wirtschaftliche Staatsordnung, die sich nach dem Krieg überall in der kapitalistischen Welt durchsetzte, auf dem Gedanken, dass ‘der Staat sich um Vollbeschäftigung, Wirtschaftswachstum und das Wohlergehen seiner Bürger kümmern konnte, und dass staatliche Macht dazu neben den Marktmechanismen frei zur Anwendung gelangen oder gegebenenfalls in diese eingreifen oder diese ersetzen sollte’.[fn]David Harvey, A Brief History of Neoliberalism, Oxford: Oxford University Press, 2005, S. 10.[/fn] Zum anderen wurde das Recht der Menschen auf Selbstbestimmung eines der Grundprinzipien des modernen Völkerrechts, verankert in der Charta der Vereinten Nationen (wenn auch in der Praxis häufig missachtet) und Anstoß für zahllose antikoloniale und nationale Befreiungsbewegungen in den unterentwickelten Regionen der Welt. Wie sich zeigte, war es um die Staatssouveränität sehr gut bestellt: Mithilfe der Institutionen des demokratischen Nationalstaats waren die westlichen Länder ab Mitte der 1940er bis in die frühen 1970er-Jahre in der Lage, geringere Arbeitslosenquoten, größere wirtschaftliche Stabilität und höhere Wachstumsraten zu erzielen als jemals zuvor.
Die Ideologie des Supranationalismus erwies sich jedoch als hartnäckig. Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er-Jahre begannen westliche Politiker, insbesondere in Europa, erneut dieselben Argumente vorzutragen, wie sie die Nazis einige Jahrzehnte zuvor gebraucht hatten. Eine strenge Austeritätspolitik in Ländern wie dem Vereinigten Königreich (unter der Regierung von James Callaghan) und Frankreich (unter der Regierung von François Mitterrand) wurde mit dem Verweis auf die ‘harsche wirtschaftliche Realität’ und die ‘unerbittliche Logik’ des Wettbewerbs und der Globalisierung gerechtfertigt, durch die, so die Behauptung, die wirtschaftliche Souveränität einzelner Staaten (und vor allem ihre Fähigkeit, eine progressive oder Umverteilungspolitik zu betreiben) erheblich eingeschränkt werde. Daher, so wurde argumentiert, hätten die Länder keine andere Wahl, als die nationalen Wirtschaftsstrategien und das herkömmliche Instrumentarium für Wirtschaftsinterventionen aufzugeben – beispielsweise Zölle und sonstige Handelshemmnisse, Kapitalverkehrskontrollen, Währungs- und Wechselkursmanipulationen sowie Haushalts- und Zentralbankpolitik. Stattdessen konnten sie bestenfalls auf eine nationenübergreifende oder supranationale Form der wirtschaftspolitischen Steuerung hoffen. Mitterrand erklärte damals: ‘Die staatliche Souveränität hat keine große Bedeutung und keinen größeren Anwendungsbereich mehr in der modernen Weltwirtschaft… Ein hohes Maß an Supranationalität ist unabdingbar.’[fn]John Ardagh, France in the New Century, London: Penguin, 2000, S. 687-688.[/fn] Der neu gefundene Konsens läutete im Verlauf der 1980er-Jahre eine neue Phase des europäischen Integrationsprozesses ein, die in ihren Grundzügen auf unheimliche Weise der Neuordnung Europas ähnelte, wie sie die Nazi-Ideologen in den 1930er und frühen 1940er-Jahren erdacht hatten.[fn]Vor diesem Hintergrund ist der Gegensatz zwischen Nationalismus und Europäismus, wie er im europäischen gesellschaftlichen Diskurs häufig heraufbeschworen wird, völlig verfehlt. Die beiden sind häufig zwei Seiten einer Medaille. Am Beispiel Deutschlands zeigt sich, dass der Europäismus den Eliten des Landes den perfekten Vorwand geliefert hat, um ihr Streben nach Hegemonie hinter einem ideologischen Schleier der ‘europäischen Integration’ zu verbergen.[/fn] Dies ist auch die Zeit, in der das Fundament für die Währungsunion und darüber hinaus für das neoliberale Europa geschaffen wurde. Um es ganz deutlich zu sagen: Damit soll weder suggeriert werden, dass die Europäische Union auf faschistischem Gedankengut beruht, noch dass moderne Integrationisten Faschisten sind; es wird aber die These in den Raum gestellt, dass, wenn wir die tiefe soziale, wirtschaftliche und politische Krise verstehen wollen, die sowohl die Europäische Union als auch und besonders die Eurozone erfasst hat, wir uns die zutiefst antidemokratischen und autoritären (um nicht zu sagen: nationalistischen) Wurzeln der supranationalen und anti-souveränen Ideologie vor Augen führen müssen. Oder, wie Yanis Varoufakis es formuliert: ‘Wir Europäer haben die moralische Verpflichtung, mit der gefährlichen Illusion aufzuräumen, die Idee einer Europäischen Union, die Nationalismen und den Nationalstaat allmählich verschwinden lässt, sei der Gegenpol zu den Plänen der autokratischen, misanthropischen, rassistischen, unmenschlichen Kriegstreiber, die durch die europäische Krise zu Kriegszeiten Bedeutung erlangten.’[fn]Yanis Varoufakis, ‘Lest we forget: The neglected roots of Europe’s slide to authoritarianism’, Blog des Autors, 14. März 2013.[/fn]
Die Auswirkungen der post-nationalen Ideologie, die in den 1980er-Jahren (wieder) zum Vorschein kam und anschließend in den 1990er und 2000er-Jahren allgegenwärtig war, sind heute noch spürbar. Nach der landläufigen Meinung haben Globalisierung und Internationalisierung der Finanzbranche der Ära der Nationalstaaten und deren Handlungsspielraum, politische Ansätze zu verfolgen, die mit dem Diktat des globalen Kapitals nicht vereinbar sind, ein Ende bereitet. Gibt es jedoch genügend Beweise, die die These stützen, dass die Staatssouveränität, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts so oft und irrtümlich totgesagt wurde, wirklich am Ende ist? Behauptungen, dass die derzeitige Phase des Kapitalismus die Funktionsfähigkeit des Nationalstaats untergrabe, beziehen sich oft auf das berühmte Trilemma des Harvard-Wirtschaftswissenschaftlers Dani Rodrik. Vor einigen Jahren skizzierte Rodrik das von ihm als ‘Theorem der Unmöglichkeit’ bezeichnete Konzept, dem zufolge ‘Demokratie, Staatssouveränität und weltweite wirtschaftliche Integration sich gegenseitig ausschließen: Wir können immer jeweils zwei der drei miteinander kombinieren, aber nie alle drei gleichzeitig und in vollem Umfang verwirklichen.’[fn]Dani Rodrik, ‘The Inescapable Trilemma of the World Economy’, Blog des Autors, 27. Juni 2000. Eine eingehendere wissenschaftliche Argumentation findet sich in Dani Rodrik, ‘How Far Will International Economic Integration Go?’, Journal of Economic Perspectives, Bd. 14, Nr. 1 (2000), S. 177-86.[/fn] Rodrik relativierte seine These mit dem Hinweis, eine echte internationale wirtschaftliche Integration setze voraus, dass sämtliche Transaktionskosten im grenzüberschreitenden Handel entfielen. Da die Nationalstaaten einer der Haupturheber von Transaktionskosten sind, folgt daraus, dass, wer eine echte internationale Wirtschaftsintegration will, bereit sein muss, entweder auf die Demokratie (indem der Nationalstaat nur den Erfordernissen der Weltwirtschaft folgt) oder auf die Staatssouveränität zu verzichten (durch Einrichtung eines föderalen Systems auf regionaler/globaler Ebene, um den Geltungsbereich der demokratischen Politik mit dem Geltungsbereich der Weltmärkte deckungsgleich zu machen).
Im Laufe der Jahre haben politische Kräfte jeglicher Couleur das Trilemma von Rodrik geschickt ausgenutzt, um neoliberale Politik – die eine Beschränkung sowohl der partizipatorischen Demokratie als auch der Staatssouveränität zur Folge hat – als ‘den unvermeidlich zu zahlenden Preis der Globalisierung’ darzustellen. Auch die Linke, die oft von sich behauptet, gegen Neoliberalismus zu sein, beruft sich häufig auf das Theorem der Unmöglichkeit, um ihre Meinung zu rechtfertigen, der Nationalstaat sei ‘erledigt’ und die Finanzmärkte bestraften alle Regierungen, deren Politik nicht mit dem Gewinnstreben des globalen Kapitals vereinbar sei. Aber Rodrik meinte etwas anderes. Entgegen der landläufigen Ansicht räumt Rodrik ein, dass die internationale Wirtschaftsintegration alles andere als ‘echt’ oder ‘vollkommen’ ist; sie sei vielmehr ‘auffallend begrenzt’. Er stellt fest, dass selbst in unserer angeblich globalisierten Welt, trotz des Aufblühens globaler Konzerne und globaler Lieferketten, noch immer erhebliche Schwankungen bei den Wechselkursen auftreten, noch immer gewaltige kulturelle und sprachliche Unterschiede bestehen, die einer vollständigen Mobilisierung von Ressourcen über Staatsgrenzen hinweg entgegenstehen, was sich daran zeigt, dass fortgeschrittene Industrieländer typischerweise eine ausgeprägte Inlandspräferenz an den Tag legen, noch immer eine hohe Korrelation zwischen nationalen Investitionsraten und nationalen Sparquoten vorhanden ist, noch immer strenge Auflagen für die internationale Mobilität von Arbeitskräften bestehen, und dass Kapitalströme zwischen reichen und armen Ländern weit hinter den Prognosen der theoretischen Modelle zurückbleiben. Genau diese Beobachtungen lassen sich (fast 20 Jahre nach der Veröffentlichung von Rodriks Beitrag) auch heute noch anstellen: Staatsgrenzen bleiben verbindlich, weil sie ‘politische und rechtliche Hoheitsgebiete markieren’, die Transaktionskosten erheben und Regeln für die ‘Vertragsdurchsetzung’ verhindern. Das Trilemma von Rodrik ist, mit anderen Worten, eine Tautologie: Natürlich ist es definitionsgemäß richtig, dass, wenn wir dem globalen Kapital keinerlei Grenzen setzen wollen, die Nationalstaaten als Träger der Gesetzgebung mit durchsetzbaren Hoheitsrechten verschwinden (und sich darauf beschränken, als Diener der globalen Gewinnmaximierung zu fungieren) und/oder die Bürger zwangsläufig ihre demokratisch-politischen Rechte verlieren müssen. Wie oben bemerkt, ist dies jedoch (noch) nicht der augenblickliche Zustand des globalen Kapitalismus, geschweige denn ein Zustand, den wir anstreben sollten. Das Trilemma hat daher wenig Realitätsbezug, es sei denn als politisches Hilfsmittel oder als sich selbst bewahrheitende Prophezeiung.
Wie in unserem neuen Buch Reclaiming the State: A Progressive Vision of Sovereignty for a Post- Neoliberal World dargelegt, war (und ist) die Globalisierung im Allgemeinen, auch in ihrer neoliberalen Ausprägung, nicht die Folge irgendeiner dem Kapitalismus innewohnenden oder technologiebedingten Dynamik, die unweigerlich zu einer Schwächung der Staatsmacht führt, wie oft behauptet wird. Ganz im Gegenteil: Sie war (und ist) ein Prozess, der von Staaten aktiv gestaltet und betrieben wurde (und wird). All jene Aspekte, die wir mit der neoliberalen Globalisierung verbinden – Verlagerung von Unternehmensstandorten, Industrieabbau, freier Waren- und Kapitalverkehr usw. – waren (und sind) in den meisten Fällen die Folge von Beschlüssen, die von Regierungen gefasst wurden. Darüber hinaus spielen Staaten weiterhin eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, ein neoliberales internationales Ordnungsgefüge zu propagieren, durchzusetzen und aufrechtzuerhalten (obwohl sich hier offenbar ein Wandel abzeichnet) und die innenpolitischen Voraussetzungen zu schaffen, damit die globale Wertschöpfung florieren kann. Zudem ‘beruhen auch die neoliberalen Formen der wirtschaftlichen Globalisierung weiterhin darauf, dass politische Institutionen und Initiativen den Neoliberalismus in Gang setzen und angesichts von Marktversagen, Krisentendenzen und Widerständen am Laufen halten’, wie sich an der Reaktion der Regierungen auf die Finanzkrise von 2007-2009 gezeigt hat.[fn]Bob Jessop, The State, Cambridge and Malden, MA: Polity, 2016, S. 193.[/fn] Dabei ist, wie Bob Jessop argumentiert, ‘ein Nullsummenspiel zwischen Weltmarktintegration und Staatsmacht ausgeschlossen’.[fn]Ebd., S. 198.[/fn]
Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass auch die gängige Wahrnehmung der Finanzwirtschaft als einer diffusen Macht, die unabhängig von einzelnen Staaten existiert (und diese beherrscht), weitgehend unhaltbar ist. Wenn die Finanzwirtschaft eine beherrschende Rolle spielt, so verdankt sie dies den politischen Institutionen, die ein Ordnungssystem geschaffen haben, das mit dem von ihnen gesteuerten Prozess der kapitalistischen Reproduktion vereinbar ist. Daher sind Finanzkonzerne für ihr eigenes Fortbestehen genauso wie (wenn nicht mehr als) sonstige Kapitalgesellschaften auf den Staat angewiesen (wie die quantitative Lockerung beweist). Gerald Epstein zufolge ‘kann die internationale Kapitalmobilität nur dann mobil sein, wenn politische und staatliche Eingriffe in die Finanzmärkte stattfinden’.[fn]Gerald Epstein, ‘International Capital Mobility and the Scope for National Economic Management’, in Robert Boyer und Daniel Drache (Hrsg.), States Against Markets, New York: Routledge, 1996, S. 157.[/fn] Epstein bezieht sich nicht nur auf die offensichtliche (aber häufig in Vergessenheit geratene) Erkenntnis, dass die Finanzintegration nur dann bestehen kann, wenn die Staaten grenzüberschreitende Kapitalströme zulassen. Integrierte Finanzmärkte ‘beruhen auch auf asymmetrischen Machtverhältnissen und Vollzugsinstanzen, um funktionieren zu können’, so dass den Gläubigern garantiert werden kann, dass ihre Außenstände/Kredite zurückgezahlt werden und dass die Schuldentilgung (mit wirtschaftlichem, politischen oder militärischem Druck) durchgesetzt wird.[fn]Ebd., S. 212.[/fn]
Das gleiche trifft auch auf den Neoliberalismus insgesamt zu. Einer insbesondere bei der Linken verbreiteten Ansicht zufolge führte (und führt) der Neoliberalismus zu einem ‘Rückzug’, einer ‘Aushöhlung’ oder einem ‘Verkümmern’ des Staates, was wiederum den Eindruck beflügelt hat, der Staat werde vom Markt ‘überwältigt’. Bei genauerem Hinsehen indes zeigt sich, dass der Neoliberalismus nicht zu einem Rückzug, sondern vielmehr zu einer Neukonfiguration des Staates geführt hat, mit dem Ziel, die Kommandobrücke der Wirtschaftspolitik dem Kapital und in erster Linie den Finanzinteressen zu überlassen’, wie es Stephen Gill formuliert.[fn]Stephen Gill, ‘The Geopolitics of Global Organic Crisis’, Analyze Greece!, 5. Juni 2016.[/fn] Es versteht sich von selbst, dass der Prozess der Neoliberalisierung so nicht stattgefunden hätte, wenn die Regierungen – und insbesondere die sozialdemokratischen Regierungen – nicht auf ein ganzes Arsenal von Hilfsmitteln zurückgegriffen hätten: die Liberalisierung der Waren- und Kapitalmärkte, die Privatisierung von Ressourcen und Sozialleistungen, die Deregulierung der Wirtschaft und insbesondere der Finanzmärkte, der Abbau von Arbeitnehmerrechten (an erster Stelle das Recht auf Kollektivverhandlungen) und darüber hinaus das Zurückdrängen gewerkschaftlichen Engagements, die Senkung von Steuern auf Vermögen und Kapital auf Kosten des Mittelstands und der Arbeiterklasse, die Kürzung von Sozialleistungen und anderes mehr. Diese Politik wurde in der westlichen Welt systematisch und mit beispielloser Entschlossenheit vorangetrieben (und den Entwicklungsländern aufgezwungen), unterstützt von sämtlichen großen internationalen Institutionen und politischen Parteien. So gesehen sollte die neoliberale Ideologie, zumindest in ihrer offiziell staatsfeindlichen Spielart, nurmehr als nützliches Alibi für ein im Wesentlichen gestern wie heute politisch und staatlich motiviertes Vorhaben gelten. Das Kapital ist heute noch genauso abhängig vom Staat wie damals zu Zeiten des ‘Keynesianismus’ – ein nützliches Mittel, um die Arbeiterklasse im Zaum zu halten, von der Pleite bedrohten Großunternehmen Finanzspritzen zu gewähren und Märkte im Ausland zu erschließen (notfalls auch durch militärisches Eingreifen) und so fort.
Auch der Verlust staatlicher Souveränität, der bereits in der Vergangenheit heraufbeschworen wurde und auch heute noch ins Feld geführt wird, um neoliberale Politik zu rechtfertigen, ist das Ergebnis einer willentlichen und bewussten Beschränkung staatlicher Hoheitsrechte durch die nationalen Eliten, ein Vorgang, der uns als Entpolitisierung geläufig ist. Zu den diversen, von westlichen Regierungen zu diesem Zweck eingesetzten politischen Maßnahmen zählen: (i) Beschneidung von Rechten der Parlamente gegenüber denjenigen von Regierungen und das Bestreben, Parlamente zusehends weniger repräsentativ werden zu lassen (beispielsweise durch Wechsel von Verhältnis- zu Mehrheitswahlrecht), (ii) formelle Unabhängigkeit der Zentralbanken von den Regierungen mit dem ausdrücklichen Ziel, die letzteren der ‘Marktdisziplin’ zu unterwerfen, (iii) Entscheidung für eine ‘direkte Inflationssteuerung’ – mit der die niedrige Inflation als Hauptziel der Währungspolitik festgeschrieben wird, unter Ausschluss anderer politischer Zielvorgaben wie beispielsweise Vollbeschäftigung – als dominantem Ansatz für Politikgestaltung durch Zentralbanken, (iv) Wahl eines regelbasierten Politikstils – für Staatsausgaben, Verschuldung im anteiligen Verhältnis zum BIP, Wettbewerb usw. – was die Politiker in ihrem Spielraum einschränkt, den Wählerwillen umzusetzen, (v) Unterordnung ausgabenintensiver Stellen unter die Kontrolle des Finanzministeriums; (vi) Rückkehr zu festen Wechselkurssystemen, wodurch die Möglichkeit zur Kontrolle der Wirtschaftspolitik durch die Regierungen stark eingeschränkt wird, und, vielleicht am wichtigsten, (vii) Übertragung staatlicher Vorrechte auf supranationale Institutionen und mega-staatliche Bürokratien wie die Europäische Union.
Der Grund, weshalb die Regierungen sich dazu bereitfanden, ‘mit gebundenen Händen’ zu agieren, ist offensichtlich: Wie der Fall Europa beispielhaft zeigt, half die Annahme selbstauferlegter ‘externer Zwänge’ den nationalen politischen Entscheidungsträgern, die politischen Kosten des neoliberalen Wandels – der wenig populäre Maßnahmen mit sich brachte – zu senken, indem institutionalisierte Vorschriften und ‘unabhängige’ oder internationale Institutionen zu Sündenböcken erklärt wurden, die ihrerseits als unvermeidliche Folge der neuen, harten Realität der Globalisierung erscheinen sollten. So gesehen sollte die ‘Aushöhlung’ des Kerns der Demokratie und die Beschneidung demokratischer Kontrollrechte, die in den letzten Jahrzehnten mit dem neoliberalen Wandel einhergingen, – bis hin zu der von Colin Crouch so treffend bezeichneten Post-Demokratie, einer Gesellschaft, die nach wie vor über sämtliche demokratischen Institutionen verfügt, die jedoch weitgehend sinnentleert nur noch der Form halber bestehen bleiben[fn]Colin Crouch, Post-Democracy, Cambridge: Polity, 2004.[/fn] – nicht als eine gesonderte Entwicklung betrachtet werden, möglicherweise verursacht durch den Druck der wirtschaftlichen und politischen Internationalisierung, sondern als ein wesentlicher Baustein des neoliberalen Projekts. Der Angriff auf die Souveränität war im Wesentlichen ein Angriff auf die Demokratie. Dieser Prozess erreichte seine extremsten Auswüchse in Westeuropa, wo der Vertrag von Maastricht (1992) den Neoliberalismus tief in das Gefüge der Europäischen Union eindringen ließ und die ‘Keynesianische’ Politik an den Rand drängte, die in den Jahrzehnten zuvor der gängige Maßstab war. Neu waren nicht allein Abwertung von Währungen und direkter Aufkauf von Staatsschulden (der Länder, die den Euro einführten) durch die Zentralbank, sondern auch nachfragegesteuerte Politik, strategischer Einsatz der Vergabe öffentlicher Aufträge, großzügige Sozialleistungen und Beschäftigungsförderung durch öffentliche Ausgaben.
Betrachtet man den Kampf des Neoliberalismus gegen die Souveränität und die verheerenden Folgen der Entpolitisierung, so nimmt es nicht wunder, dass die ‘Souveränität zum Hauptrahmen der gegenwärtigen Politik geworden ist’, wie Paolo Gerbaudo vermerkt.[fn]Paolo Gerbaudo, ‘Post-Neoliberalism and the Politics of Sovereignty’, openDemocracy, 4 November 2016.[/fn] Umgekehrt ist es nur selbstverständlich, dass das Aufbegehren gegen den Neoliberalismus zu allererst in Forderungen für eine Re-Politisierung der innerstaatlichen Entscheidungsprozesse mündet – das heißt für ein höheres Maß an demokratischer Kontrolle über die Politik (und insbesondere über die vom Neoliberalismus entfesselten zerstörerischen globalen Geldströme), die zwangsläufig nur auf nationaler Ebene ausgeübt werden kann, wenn effektive supranationale Vertretungsmechanismen fehlen. Die Europäische Union bildet da offensichtlich keine Ausnahme: Vielfach wird sie (zu Recht) als Verkörperung technokratischer Herrschaft und Entfremdung der Eliten von den Massen angesehen, wie das Brexit-Votum und die verbreitete; den gesamten Kontinent erfassende Euroskepsis gezeigt haben. In diesem Sinne, und entsprechend der in unserem Buch vertretenen Ansicht, sollte die Linke den Brexit – und darüber hinaus die aktuelle Krise der EU und der Währungsunion – nicht als Grund zur Verzweiflung ansehen, sondern als einmalige Chance, sich (wieder) eine progressive, emanzipatorische Sicht der Staatssouveränität zu eigen zu machen, die neoliberale Zwangsjacke der EU abzustreifen und ein echtes demokratisch-sozialistisches Programm umzusetzen (was innerhalb der EU unmöglich wäre, geschweige denn innerhalb der Eurozone). Damit dies gelingen kann, müssen die linken Kräfte sich jedoch der Tatsache bewusst werden, dass der souveräne Staat keineswegs machtlos ist, sondern nach wie vor die Ressourcen zur demokratischen Kontrolle der nationalen Wirtschaft und Finanzen in sich birgt – ja dass der Kampf um staatliche Souveränität letztlich ein Kampf für die Demokratie ist. Dies muss nicht auf Kosten der europäischen Zusammenarbeit geschehen. Ganz im Gegenteil: Wenn wir es den Regierungen erlauben, das Wohlergehen ihrer Bürger so weit wie möglich zu mehren, könnte und sollte dies die Grundlage für ein erneuertes europäisches Projekt werden, das auf einer multinationalen Zusammenarbeit souveräner Staaten beruht.
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