Gunther Walden, noch Langzeitarbeitsloser, hielt am Tag der Arbeitslosen tatsächlich eine freie Rede und übergab sein Manuskript zur Publikation:
“Jedem arbeitswilligen und arbeitsfähigen Menschen in unserem Land soll entsprechend seiner Fähigkeiten und seiner Bedürfnisse das Recht auf ein armutsfestes Erwerbsleben gemeinwohlorientert gewährleistet werden!”
Eine gute Ausbildung ist schon lange kein Garant mehr für einen entsprechenden Arbeitsplatz. Spätestens seit der globalen Finanzkrise 2008/09 zieht die besorgniserregende Besonderheit der verfestigten Arbeitslosigkeit immer weitere Kreise in unser aller Lebenswelt.
Mit jedem weiteren Tag der Erwerbslosigkeit verringert sich damit zunehmend die Chance auf einen unbefristetes und existenzsicherndes Dienstverhältnis
Arbeitssuchenden ohne nenneswerte finanziellen Reserven oder hilfreiche Angehörige mit ursprünglich bescheidenen Löhnen oder Gehältern sind in zunehmendem Maße auf Sozialhilfe angewiesen.
Wegen zu geringer Leistung aus der Arbeitslosenversicherung sinkt durch den zusätzlichen Wegfall von Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Überstunden, Prämien, Trinkgeld etc. das monatliche Einkommen oft dramatisch unter 50 %.
Anstatt diesen Menschen auf breiter Front solidarisch zur Seite zu stehen, werden die Betroffenen leider all zu oft selbst von staatlicher Seite und der Medienwelt als alleinige Verursacher ihrer Lage behandelt. Manchmal artet dies selbst auf höchsten Ebenen in Beschämung und Sitgmatisierung aus.
Gemeinschaftliche und systemische Verantwortung wird auf diese Art und Weise verleugnet, einseitige Schuldzuweisungen, die jeglicher Logik widersprechen, zeichnen die vorübergehend Erwebslosen als unnötige und alleinverantwortliche Belastung der Gesellschaft.
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“Daher fordere ich als Betroffener aus tiefster Überzeugung und Selbsterfahrung eine existenzsichernde Nettoersatzrate der Arbeitslosenversicherung, die in jedem Fall über der Armutsschwelle liegt - in einem der reichsten Länder dieser Welt – in Österreich!”
55 % Nettoersatzrate ist für die untere Hälfte der Einkommenspyramide einfach nicht ausreichend für ein Leben im Sinne der Menschenwürde und der sozialen Teilhabe.
Besonders für Alleinerziehende, Familien und Menschen mit besonderen Bedürfnissen wie z.B. chronisch Kranken und Menschen mit Pflege- und Betreuungsverpflichtungen.
Da Vermögen noch wesentlich ungleicher verteilt sind als Einkommen, werden kleine Ersparnisse von Erwerbslosen oft erschreckend rasch aufgebraucht.
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Hier ein kleiner Vergleich innerhalb der EU von ähnlichen Ländern: In Belgien und Schweden beträgt die Nettoersatzrate zwischen 80 und 70%.
In Deutschland wiederum ist diese Leistung noch geringer als bei uns. Berühmt-berüchtigt bei Betroffenen unter dem Namen Harz-4 oder ALG2. Für mich ist klar, in welche Richtung wir gehen sollen! Sowohl im Namen der Mitmenschlichkeit, als auch im Sinne einer gesunden Volkswirtschaft! Armut nützt niemandem!
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… und nein, Arbeitslosengeld ist keine Sozialleistung!
Es ist eine Versicherungsleistung einer Solidargemeinschaft, die durch üble Tricks immer weiter auseinander dividiert wird.
Erwerbslose werden in “Schuldige” und “Unschuldige” aufgeteilt. Was soll das bitte bringen?
Selbst der gegenwärtige Bundeskanzler unseres Landes sprach vor etwa zwei Jahren im öffentlich-rechtlichen Rundfunk weit hörbar, ungeniert und respektlos von “immer mehr Menschen, die in der Früh nicht mehr aufstehen”.
Das alte Märchen der grasierenden Arbeitsunwilligkeit wird von viel zu vielen nicht einmal mehr hinter vorgehaltener Hand immer wieder dreist wiedergekäut. “Wer Arbeit will, findet eine! Koste es, was es wolle!”
Selbst der ehemalige, weithin hoch angesehene Vorstand des Instituts für höhere Studien – unser jetziger Arbeitsminister - lieferte erst kürzlich in der Zeit im Bild 2 “eine traurige Variation aufs Thema”. Bei erhöhtem Arbeitslosengeld befürchte er “zunehmende Arbeitsunwilligkeit”!
Können solche Aussagen wirklich das Resultat akademischer Expertise sein oder handelt es sich hier um klassenkämpferische Kampfansagen von oben?
In Wirklichkeit gesteht er meiner Meinung nach damit ein, dass ein existenzsicherndes Arbeitslosentgelt die unverschämten Hungerlöhne des Niedriglohnsektors dadurch endgültig als völlig absurd und armutsgefährdend entblößen.
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Während der letzten Regierung wollten Kanzler und Vizekanzler gemeinsam unter dem Beifall viel zu vieler deutsche Hartz-4-Verhältnisse schaffen, die etwa ein Drittel aller Arbeitslosen mit einem Schlag zu Sozialhilfe-Empfänger*innen gebrandmarkt hätte!
Das hätte bedeutet: massiver und gewollter Ausbau des schon jetzt unerträglichen Niedriglohnsektors plus einer beinah 100 %igen Vermögenssteuer für Menschen, die oft für den Arbeitsmarkt zu krank oder zu alt - und somit lt. Kollektivverträgen zu teuer sind!
Denn Sozialhilfe NEU gibt’s erst, wenn mühsam Erspartes bis auf etwa 4.500,- Euro verbraucht ist. Auch das über Jahrzehnte finanzierte oder in der Familie weiter vererbte Familienhäuschen bzw. bescheidene Eigenheim wäre dadurch sehr rasch zumindest zu großen Teilen “aufgebraucht”.
Glücklicherweise hat der Ibiza-Skandal das schlimmste verhindert, die Sozialhilfe NEU hat jedoch die unterste Schicht unserer Gesellschaft bereits jetzt mit voller Härte getroffen.
Beispielsweise junge Menschen, die bereits am Anfang ihrer Erwerbskarriere aus mannigfaltigen Gründen keine ordentlichen Arbeitsverhältnisse erhalten und daher von einer eigenen Arbeitslosenversicherung nur träumen können.
Nicht umsonst spricht man von “Generation Praktikum” – unbezahlt wohlgemerkt!
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Was bedeutet nun eine Nettoersatzrate von 55 % im echten Leben:
Als Beispiel wähle ich eine 43jährige Alleinerziehende, nennen wir sie Fr. Mayr. Sie hat einen 8jährigen Sohn und arbeitet Vollzeit. Frau Mayr verdient genau das Medianeinkommen aller Lohn- und Gehaltsabhängigen Frauen in Österreich, das im Jahr 2020 lt. Statistik Austria netto etwa 1.750,- Euro betragen hat. Für ihren 8jährigen Sohn erhält sie pro Monat noch etwas mehr als 140,- Euro Kindergeld. Der Vater des Sohnes ist im Privatkonkurs und kann bzw. will bis auf weiteres keine Alimente zahlen. Das monatliche Budget für Mutter und Kind liegt also bei knapp 1.900 Euro. Die kleine Genossenschaftswohnung fällt mit rund 600,- Euro all inclusive (Betriebskosten, Heizung und Energie) glücklicherweise nicht all zu sehr ins Gewicht. Urlaubs- und Weihnachtsgeld wird meist für außergewöhnliche Ausgaben verwendet – Zahnspange, neue Waschmaschine, Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke, ein kleiner, aber feiner Urlaub pro Jahr mit ihrem Sohn geht sich auch noch aus, wenn vorsichtig geplant wird. Unerwartet wird nun ausgerechnet im Pandemiejahr Frau Mayr gekündigt, da die Produktion ihrer Firma nach Polen ausgelagert wird. Ein versprochener Sozialplan scheitert. Die alleinerziehende Mutter hat nun von einem Tag auf den anderen nur mehr 55 % ihres Nettolohnes zur Verfügung. 1.750,- Euro Nettolohn pro Monat schrumpfen auf exakt 962,50 Euro Arbeitslosengeld.
Mit einem Schlag ist alles anders! Das noch fällige bisherige Urlaubs- und Weihnachtsgeld kommt dazu noch monatelang nicht zur Auszahlung. Die Aussichten am krisengebeutelten Arbeitsmarkt sind für eine alleinstehende 43jährige Mütter wie Frau Mayr mehr als schlecht. Die Bezahlung des kostenpflichtigen Hortes für den Sohn ist von einem Tag auf den anderen finanziell in weiter Ferne. Ihre Kinderbetreuungspflichten erschweren dementsprechend die ohnenhin schon mühselige und nervenaufreibende Arbeitssuche.
Ein bescheidenes, jedoch existenzsicherendes Nettojahreseinkommen von 26.200,- Euro (14 x 1.750,- plus Kindergeld) halbiert sich von einem Tag auf den anderen auf 13.230,- Euro. (12 x 962,50 plus Kindergeld)
Talentierte Kopfrechner*innen stellen schnell fest, dass das neue Budget unserer Kleinfamilie im Jahresdurchschnitt auf 50,5 % von vorher geschrumpft ist und damit weit unter der Armutsgefährdungsschwelle von etwa 20.000 Euro für einen Haushalt mit einer Person und einem Kind liegt. (1.286,- lt. Armutskonferenz für eine Ein-Personen-Haushalt multipliziert mit 1,3 für ein zusätzliches Kind – 1.286, x 1,3 = 1.671,8 x 12 Monate = 20.061,6 Euro Jahresbudget bei längerer Erwerbslosigkeitsdauer)
Wäre die Frau kinderlos, würde das wegfallende Urlaubs- und Weihnachtsgeld ihr Nettojahreseinkommen auf ziemlich genau 47 % schrumpfen lassen.
Wohin ist nun unsere Nettoersatzrate von 55 % verschwunden. Wird hier etwa betrogen, getäuscht, getarnt? Aber nein, weit gefehlt … Alles in Ordnung …
Urlaubs- und Weihnachtsentgelt sind nach wie vor kein Rechtsanspruch – fallen also quasi unter den Tisch – wie von selbst – bisher medial weithin meist unerwähnt - übrigens auch von Sozialdemokratie und Gewerkschaften.
Die genaue Fortsetzung der traurigen Geschichte erspare ich euch.
Nach spätestens 12 Monaten könnte Frau Mayr mit ihrem Sohn in die Notstandshilfe fallen mit weiter verringertem Taggeld. Nach aufgebrauchten Ersparnissen ist spätestens jetzt der Weg zum Sozialamt nicht mehr vermeidbar.
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Die durschnittliche Notstandshilfe unabhängig von Alter und Geschlecht beträgt aktuell exakt 807,- Euro pro Monat! Nur durchschnittliche Mietkosten machen alleine schon den täglichen Lebensmittelkauf zum Spießrutenlauf!
Wenn wundert es also noch, dass bereits vor der Corona etwa jedes 5. Kind in einem der reichsten Länder der Welt in armutsähnlichen Verhältnissen oder Schlimmerem leben musste.
Wenn wundert es also noch, wenn beinah jede 2. alleinerziehende Person mit ihren Kindern in armutsähnlichen Verhältnissen oder Schlimmerem leben muss.
Knapp 90 % der Alleinerziehenden sind übrigens Frauen. Auch im Alter haben Frauen im Durchschnitt etwa 40 % weniger Pension als Männer.
Wenn wundert es noch, dass Armut in erster Linie Frauen und Kinder betrifft.
Das Motto “Frauen und Kinder zuerst” habe ich anders verstanden!
Gut das hier sich meine Redezeit zum Ende neigt, denn würde ich hier nun ungebremst meinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf lassen, wären einige von euch zu recht überrascht oder gar verschreckt.
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Lasst mich zum Abschluß bitte noch ein großes Dankeschön und eine Bitte an Euch aussprechen:
Nicht-Regierungs-Organisationen wie bspw. die Volkshilfe, das Hilfswerk, die Caritas, die Diakonie und noch viele andere leisten mit oft knappen Budgets vieles, was eigentlich Kernaufgaben eines modernen und kreativen Staatsapparates wären.
Glücklicherweise gibt es zumindest Transferzahlungen der öffentlichen Hand an diese “Leuchttürme der Menschlichkeit”, doch oft wäre ohne die große Spendenbereitschaft breiter Bevölkerungsschichten vieles gar nicht möglich.
Daher mein großer Dank an alle Mitarbeiter*innen in diesem Sektor, die durch ihre tägliche Arbeit regelmäßig vielen Menschen den Weg zum Sozialamt ersparen. Besonders Sozialmärkte und Tafeln leisten für Armutsbetroffene bezüglich dem täglichen Bedarf an Lebensmitteln und Hygiene unschätzbar wertvolle Dienste.
Durch eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes würden dringend nötige Kapazitäten frei, um jenen noch besser helfen zu können, die sich auf der untersten Sprosse unserer Gesellschaftsleiter befinden und vor lauter Elend schon gar keinen Mucks mehr machen.
Ich denke, Ihr wisst genau, welche Menschen ich meine!
Und zum Abschluss noch eine große Bitte an Euch: Wenn wieder mal von Tachinierern, Arbeitsscheuen oder etwas raffinierter von Menschen gesprochen wird, “die in der Früh nicht mehr aufstehen”: Bitte schweigt nicht! Bitte sagt’s was dazu! Gerne höflich, jedoch unmissverständlich und bestimmt! Denn wer schweigt, stimmt zu – ohne es meist wirklich zu wollen! Schluss mit dieser Verhöhnung jener, die gerade ein Schicksal erleiden, dass alle von uns jederzeit treffen kann! Schluss mit Stigamtisierung und Beschämung!
Danke für Eure Zeit – Danke für Eure Aufmerksamkeit!