Ist der Russ' allein schuld?

Kommentar zu "Russische Machtdemonstration", Kl. Ztg. v. 22. April:

Kommentar zum beiliegenden Artikel "Russische Machtdemonstration", Kl. Ztg. v. 22. April:

Ist der Russ' allein schuld?

Der Artikel von Frau Nina Koren beschreibt die militärischen Vorgänge an der Ostgrenze aus der überwiegend einseitigen politischen Perspektive der NATO-Politiker und ihrer Militärstrategen. Wichtige Fakten bleiben unerwähnt. Wichtig ist dabei die Ereignisse in größeren historischen Zusammenhängen zu verstehen.

Spätestens seit Peter dem Großen, also seit mehr als 300 Jahren, betreibt Russland eine imperiale Großmachtpolitik und versucht sich dabei in Ostmitteleuropa ein strategisches Vorfeld zu sichern. Auf Störungen dieser Interessen reagiert die russische Politik jeweils allergisch. Drei große Aggressionskriege aus dem Westen (Napoleon 1812, 1. und 2. Weltkrieg) haben das Land teilweise bis Moskau hin verwüstet und insgesamt Zigmillionen Tote gefordert. Im 2. Weltkrieg lag die Zahl der Toten der Sowjetunion etwa bei ca. 24 Millionen, davon mehr als 14 Mio. ZivilistInnen.  Das waren 40% aller Kriegstoten. Die daraus  erwachsenden,  starken russischen Sensibilitäten bezüglich der Bedrohung seines westlichen Sicherheitskordons sind tief im kollektiven Bewußtsein des Volkes verankert. Bestätigung fanden diese begründeten Ängste des russischen Volkes im vorigen Jahrhundert auch in den wichtigsten geostrategischen Vordenkern des Westens. Es waren ja nicht nur die Nazi-Ideologen, die den slawischen Osten Europas als Feld der hegemonialen Ausbeutung und militärischen Beherrschung propagiert haben. Russland als Teil des "euroasiatischen Herzlandes"  stand auch im Zentrum von einflußreichen Geostrategen der Angloamerikaner, von Briten Halford Mackinder unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg bis hin zum US-Präsidentenberater Zbigniew Brzezinsky, der 1997 in seinem Buch "Die einzige Weltmacht" die Beherrschung der Euroasiatischen Festplatte durch die USA forderte.

Die NATO-Unfriedensallianz und ihre leeren Versprechungen 

Nach dem 2. Weltkrieg gründet sich 1949 zuerst die NATO und als Gegengewicht 1955 der Warschauer Pakt. Bei der Widervereinigung Deutschlands versprachen deutsche und US-Politiker die Grenzen der NATO nicht nach Osten vorzuschieben. US-Außenminister Baker, sprach sogar von "not one inch". Der deutsche Kanzler Kohl  und BRD Außenminister Genscher sprachen von der Möglichkeit das Territorium der damals noch bestehenden DDR  nicht in das Operationsfeld der NATO einzubeziehen.  Der Fehler Gorbatschows bestand darin, nicht auf der vertraglichen Festschreibung dieser Versprechen bestanden zu haben. Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 löste sich der Warschauer Pakt auf, nicht aber die NATO. Sie suchte sich neue Feindbilder, zu denen auch bald wieder Russland gehörte. Anders als 1990 versprochen, bezog die NATO ab 1999 alle potentiellen ostmitteleuropäischen Pufferstaaten" von Estland bis Bulgarien in ihr Bündnis ein und stand damit im Norden direkt an der Grenze Russlands.

Das von Putin in seiner Rede 2001 vor dem Deutschen Bundestag gemachte Angebot ein gemeinsames "Haus Europa" zu gestalten wurde ebensowenig ernst genommen, wie seine eindringliche Warnung bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, Russland werde ein weiteres Heranrücken der NATO und eine von den USA angestrebte unipolare Weltordnung  nicht akzeptieren.  2014 brachte der Versuch der EU, die Ukraine aus ihrer Brückenfunktion zu lösen und eng an ihr Wirtschaftsimperium zu binden, die russischen  Alarmglocken erneut zum Schrillen und führten nach den vom Westen mitgesteuerten Putsch in Kiew zu den bekannten Ereignissen in der Ostukraine und auf der Krim.

Zweierlei Maß von USA und NATO

Die USA haben nach dem 2. Weltkrieg in der Interpretation ihrer Sicherheitsbedürfnisse immer mit doppeltem Maß gemessen. Als die USA im April 1962 in der Türkei, also an der Südwestflanke der Sowjetunion,  Atomraketen stationierten und Moskau daraufhin im Oktober mit einer Atomraketenstationierung auf Kuba gleichziehen wollte, war dies für Washington völlig unakzeptabel. Kennedy drohte  mit einem Atomkrieg. Chruschtschow gab nach, die Anlieferung der Raketen nach Kuba wurde abgebrochen, jene in der Türkei blieben. Im Zuge ihres Weltherrschaftsanspruches unterhalten die USA rund um die Welt mindestens 600 Militärstützpunkte, viele davon - in der Absicht seiner Einkreisung und Einschüchterung - in der Nähe Russlands. Die USA unterhalten ein gigantisches Militärbudget, das laut dem jüngsten SIPRI-Bericht 778 Mrd. US-Dollar bzw. ca. 38 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben beträgt. Innerhalb eines Jahres wurde das Budget um 4,4 % gesteigert.  Demgegenüber liegen die Ausgaben Russlands bei nicht einmal einem Zehntel von jenen der USA. Auch Russland steigerte seine Ausgaben von 2019 auf 2020 um 2,5 Prozent, allerdings nachdem es 2015 - 2017 seine Ausgaben jährlich gesenkt hatte. Die Gesamtausgaben aller Nato-Staaten für Rüstung und Militär betragen mehr als die Hälfte der Gesamtausgaben weltweit. Auch bei der NATO-Zielvorgabe, die Militärbudgets aller Mitgliedsstaaten bis 2024  auf 2 % des BNP zu erhöhen, hat  Moskau verständlicherweise ein Deja-vu-Erlebnis. Natürlich kommt das bei der russischen Führung so an, dass es hier um eine Neuauflage der Strategic Defense Initiative  von US-Präsident Ronald Regan aus dem Jahr 1983 geht. Die erklärte und erfolgreich umgesetzte Absicht dieses SDI-Projekts - in Produkten der Filmindustrie Hollywoods auch "Star Wars" genannt - bestand bekanntlich darin, die Sowjetunion in einem Rüstungswettlauf im Weltall zu treiben und so Tode zu rüsten.  Mit der Aufstellung der Raketen-Abwehr-Systeme in Polen und Rumänien 2016 verschoben die USA das vorher gegebene Gleichgewicht des Schreckens zu ungunsten Russlands. Der Kreml fürchtet, im Kriegsfall ohne die Möglichkeit des Gegenschlages einem Atomraketenangriff der USA  ausgeliefert zu sein. Hinzu kommt: Die sowjetische und später die russische Militärdoktrin sieht ausdrücklich vor, Atomwaffen nicht als erster einzusetzen. Als der frischgebackene deutsche Außenminister Joschka Fischer 1998 von den USA dasselbe forderte, wurden im von seiner US-Amtskollegin Madeleine Albright umgehend  "die Wadl viri g'richtet".

Und auch als der ukrainische Präsident Wlodymyr Selenskyj kürzlich ankündigte, die Ukraine werde sich um den Beitritt zur NATO bewerben und dies von NATO-Generalsekretär Stoltenberg nicht klar zurückgewiesen wurde, kann das in Moskau nicht zur Beruhigung  beigetragen haben. Mit genau derselben Befürchtung, Weißrussland  könnte eines Tages NATO-Mitglied sein und die Nordatlantik-Allianz damit erneut 400 km vor Moskau stehen, unterstützt Putin das undemokratische Regime Lukaschenko in Minsk.

NATO-Großmanöver: Österreich leistet Beihilfe

Sowohl die NATO als auch Russland haben in den letzten Jahren an den Grenzen ihrer Interessensphären Großmanöver durchgeführt. Übungsannahme war jeweils ein notwendiger Verteidigungsfall. So etwa die NATO bei ihrem Großmanöver Trident Junction 2018. Ein 2020 geplant gewesenes großangelegtes NATO Militärmanöver konnte coronabedingt nur teilweise durchgeführt werden. Bei Defender Europe 20 wurden 37 000 Soldaten, Hunderte Panzer, 13 000 Stück Material und Kriegswaffen bewegt. Zwei Drittel davon wurden per Schiff und Flugzeug extra über den Atlantik gebracht. Dieses Manöver wird in den nächsten Monaten unter dem Namen  "Defender Europe 2021" weitergeführt. Diesmal sind 28.000 Soldaten im Einsatz. Wesentliches Manöverziel ist, die Tauglichkeit der Verkehrsinfrastruktur für schnelle Truppenverlegung an die NATO-Ostgrenze zu üben. Das neutrale Österreich ist da leider wieder einmal als williger Gehilfe mit dabei. Mit Erlaubnis der Regierung werden 2000 Soldaten, 800 Militärfahrzeuge und zahlreiches sonstiges Kriegsgerät  auf 2 Routen durch Österreich transportiert werden. Wie derlei Transporte zur Klimastrategie der Regierung passen, mögen friedensbewegte Menschen sich vom grünen Koalitionspartner erklären lassen.

Das alte Spiel, neu inszeniert

Kurz: Das Spiel ist altbekannt. Man hält riesige militärische Bedrohungspotentiale aufrecht, die Militär- und Rüstungsausgaben allein der USA liegen bei einem 10-fachen der über jenen Russlands, Russland ist von zahlreiche USA-Militärbasen eingekreist und man provoziert machtpolitisch häufig auf einem niedern oder mittleren Niveau. Und wenn die Provozierten dann mit harschen militärischen Drohgebärden reagieren, setzt man die Unschuldsmiene auf und schreit laut "Stoppt den Aggressor!".  Die Europäische Öffentlichkeit sollte da nicht länger mitspielen.  Gewiß: Putin und seine Systemträger sind keine Waisenknaben. Mächte mit einem imperialen Anspruch sind für kleinere Staaten und Völker an ihren Grenzen  immer problematische Nachbarn. Das war bei der Großmachtpolitik der Habsburger-Monarchie nicht anders. Das erklärt teilweise auch die aktuellen, aus ihrer jüngeren Geschichte erwachsenden Russland-Ängste vieler Menschen im Baltikum und Polen. Trotzdem führt an dem seinerzeit von Willy Brands Ostpolitik vorgezeichneten Weg der unermüdlichen Entspannungsbemühungen und einem ernsthaften Abrüstungs- und Friedensdialog  kein sinnvoller Weg vorbei. Zu glauben, das westliche Europa soll sich dauerhaft in transatlantischer Treue gegen seinen mächtigen östlichen Nachbarn instrumentalisieren lassen, ist nicht  mehr und nicht weniger als eine verantwortungslose friedenspolitische Kurzsichtigkeit.

Österreichs Neutralität aktiv für den Frieden nutzen!

Österreichs "immerwährende Neutralität" wurde in den letzten 30 Jahren durch viele kurzsichtige Einzelentscheidungen  salamitaktikartig ausgehöhlt. Aber noch gibt es sie. Im Sinne ihrer Glaubwürdigkeit ist von unserer Regierung zu fordern, die Erlaubnis für die geplanten NATO-Militärtransporte zu widerrufen. Und dann - durchaus auch in der Tradition der Außenpolitik Bruno Kreiskys - möge unser Land einen großen innereuropäischen Friedensdialog mit Russland anbahnen. In den 1. Weltkrieg ist Europa teilweise durch eine kurzsichtige Politik und dumme hegemoniale Muskelspiele hineingestolpert. Bei diesem schrecklichen Irrweg war Österreich vorneweg mit dabei. Wir sollten wieder mit dabei sein, nur diesmal in die umgekehrte Richtung zum Frieden!
 

Franz Sölkner, Thal, Aktivist der Steirischen Friedensplattform

 

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