Nur noch 40% des Einkommens bei längerer Arbeitslosigkeit?

Eine Chronik der neoliberalen „Verarmugsstrategie“ durch ein degressives Arbeitslosengeld

Bereits vor einem Jahr, mitten in einer der tiefsten Krisen des Arbeitsmarktes in der Zeit der 2. Republik, präsentierte die türkis-grüne Regierung den Plan, die Arbeitslosenversicherung zu reformieren und ein degressives Modell einzuführen. Im Juli 2020, zu einem Zeitpunkt als in Österreich 432.539 arbeitslos gemeldeten Personen (inkl. Schulungsteilnehmer_innen) 65.004 offene Stellen zur Verfügung standen[1] – 7 Arbeitslose auf eine offene Stelle kamen –  ließ Kogler verlauten: „Wir wollen schon länger – und ich denke die ÖVP auch – eine sogenannte degressive Variante, wo man am Anfang mehr bekommt und später weniger“.[2] Kein Wunder, dass Kogler von der Zustimmung der Türkisen ausgehen konnte, denn entsprechende Pläne zur Reform des Arbeitslosengeldes und einer Abschaffung der Notstandshilfe wurden ja bereits durch die türkis-blaue Regierung formuliert.

Der türkise „Traum“ vom Niedriglohnland Österreich

Nunmehr liegt ein internes Papier vor, welches die Pläne der Türkisen konkretisiert. Das Positionspapier des ÖVP-Wirtschaftsbundes sieht vor, dass die Nettoersatzrate des Arbeitslosengeldes von Langzeitarbeitslosen von derzeit 55% mit der Zeit auf unter 40% abgesenkt wird. Zur Erinnerung: Bereits jetzt liegt das Arbeitslosengeld mit im Schnitt 980 Euro monatlich (12 x im Jahr)[3] bei einem Großteil der Bezieher_innen unter der Armutsgefährdungsschwelle von 1.328 Euro im Monat. Tatsächlich hat derzeit jede_r zweite Arbeitslose weniger als 1.000 zur Verfügung.

Dem türkisen Wirtschaftsbund ist, bezugnehmend auf das Konzept der Degression, zudem insbesondere die Notstandhilfe ein Dorn im Auge. Diese soll zeitlich begrenzt werden. Die Betroffenen würden so in die Mindestsicherung gedrängt, mit entsprechend weitreichenden und langfristigen Folgen: Kein Erwerb von Pensionszeiten und entsprechende Armutsverschärfung im Alter, das Heranziehen von Erspartem (bis auf rund 4.000 Euro), keine geringfügigen Zuverdienste, welche von der Sozialhilfe abgerechnet werden und – in Bezug auf den Arbeitsmarkt zentral – kein Berufsschutz.  Betroffenen ist demnach, nach dem Gesetz, jede Arbeit zumutbar.

Entsprechendes sieht das türkise Positionspapier zur Arbeitslosengeldreform jedoch auch bereits während des Bezugs des Arbeitslosengeldes vor. Auch Arbeitslosengeldbeziehende sollen künftig, geht es nach dem ÖVP-Wirtschaftsbund, neben dem Bezug des Arbeitslosengeldes keine geringfügigen Jobs mehr annehmen dürfen. Gerade diese Möglichkeit befördert jedoch, wie Studien zeigen, eine einfachere Wiederaufnahme von Erwerbsarbeit und verhindert durch die leichte Erhöhung des geringen Bezugs, vertiefte Armutslagen.  

Weiters sollen die Zumutbarkeitsbestimmungen für Arbeitslose wiederum verschärft werden: Die zumutbare Wegzeit zum Arbeitsplatz soll generell von einer Stunde auf 1,5 Stunden ausgedehnt werden. Bei Langzeitarbeitslosen soll es sogar ermöglicht werden, Personen zur Annahme von Arbeitsstellen im ganzen Land zu zwingen. Pendeln ist dann vielfach nicht mehr möglich. Diese Personen, die durch eine lange Arbeitslosigkeit geringe finanzielle Ressourcen zur Verfügung haben, würden gezwungen werden können, Umzugskosten zu stemmen und sich ganz woanders – in einem unter Umständen prekären, vielleicht sogar befristen Job –  eine neue Existenz aufzubauen. Ihr soziales Netzwerk, ihre Familie, müssen sie zurückzulassen oder ebenfalls in ein neues Leben zwingen, wollten sie keinen Leistungsentzug riskieren. Gerade im Nachgang der Corona-Krise, in der die Zahl Langzeitarbeitsloser massiv gestiegen ist, würden diese Pläne vergleichsweise viele Menschen treffen. Denn derzeit sind rund 62.359 bereits bis zu einem Jahr arbeitslos – und damit um ein Drittel mehr als in den Vorjahren.

Grundlage der Degression ist laut Wirtschaftsbund die Notwendigkeit, „Anreize“ für die Aufnahme von Arbeitsstellen zu schaffen. Abgesehen von der Unterstellung und falschen Ideologie, Arbeitslose würden de facto aufgrund eines "zu hohen Arbeitslosengeldes" freiwillig arbeitslos sein, scheint es mehr als befremdend, dass all diese Konzepte zu einer Zeit lanciert werden, zu der, wie derzeit, sechs Arbeitssuchende auf eine offene Stelle kommen.

Was also ist das Ziel hinter dem degressiven Modell?

Arbeitslose sollen durch mit der Dauer der Arbeitslosigkeit immer weiter absinkende Einkünfte und verschärfte Zumutbarkeitsbestimmungen gezwungen werden, schlechtere Arbeitsbedingungen und Löhne zu akzeptieren. Das eigentliche Ziel des degressiven Modells ist es mithin, die Löhne in Österreich zu drücken, indem die Verhandlungsposition der Arbeitslosen und damit aller unselbständig Erwerbstätigen geschwächt wird. Das entspricht einem Hartz IV Modell für Österreich und bedeutet den Wechsel von einem versicherungsbasierten Regime sozialer Absicherung, das auf den Statuserhalt ausgerichtet ist, zu einem Regime der Fürsorge, die sich an einem Mindestbedarf, an der Existenzsicherung ausrichtet. Wir müssen also nur nach Deutschland schauen, um zu verstehen, was die Folgen eines entsprechend ausgestalteten degressiven Arbeitslosengeldmodells sein werden: deutlich  schlechtere Löhne, ein massives Anwachsen des Niedriglohnsektors, Zunahme von „Working Poor“, Verfestigung von Armut und Landzeitarbeitslosigkeit und der Abbau der Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.[4] Der wirtschaftlichen Entwicklung stand, wie Studien zeigen, Hartz IV durch einen Rückgang der Kaufkraft sogar entgegen. Studien zeigen zudem, dass eine verkürzte Bezugsdauer und geringeres Arbeitslosengeld, die einen Zwang zur Aufnahme jeglicher Arbeit aufbauen sollen, tatsächlich nur bedingt dazu führen, dass Arbeitslose eher Beschäftigung annehmen. Vielmehr bewirken sie durch die Präkarisierung breiter Schichten, dass sich Betroffene eher komplett aus dem Arbeitsmarkt zurückziehen[5] oder in Scheinselbständigkeit und Schwarzarbeit abgedrängt werden.

Arbeitslosigkeit – nicht Arbeitslose bekämpfen!

Das bedeutet, dass eine bessere soziale Absicherung Arbeitsloser de facto nicht dazu beiträgt, dass Arbeitslose länger arbeitslos bleiben. Sie bewirkt jedoch, dass die soziale Position von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gestärkt wird, trägt zur Armutsbekämpfung und zu dauerhaften, stabileren Beschäftigungsverhältnissen (durch ein besseres "matching") bei.

Um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen – und nicht Arbeitslose (wie es die Regierung forciert) – braucht es Arbeitsgelegenheiten. Diese können beispielsweise durch sinnvolle, vor allem auch öffentliche Investitionen geschaffen werden. Unsere Forderung nach einer dauerhaften Erhöhung des Arbeitslosenggeldes auf 80% und einer entsprechenden Anhebung der Notstandshilfe sowie die Forderung nach einer verbesserten Rechtsstellung der Arbeitslosen und einer Entschärfung der Zumutbarkeitskriterien sind somit nicht nur die einzig richtige Antwort, um sozialer Ausgrenzung und Armut entgegenzutreten, sie sind auch der einzig richtige Weg aus der Krise.

 

Literatur:

[1] AMS, Übersicht über die Arbeitsmarktdaten, Juli 2020.

[2] ORF News: Kogler für Reform von Arbeitslosengeld, 19. Juli 2020, 10.39 Uhr, https://orf.at/stories/3174157/

[3] Statistik Austria, Sozialleistungen auf Bundesebene, Arbeitslosenleistungen, 2019. http://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/soziales/sozialleistungen_auf_bundesebene/arbeitslosenleistungen/index.html

[4] Weiterführende Informationen: https://www.arbeiterkammer.at/infopool/wien/AK_Hartz_Reformen_Folgen-und-Alternativen_10-2016.pdf

[5]Franziska Foissner (2018) Folgen einer möglichen Abschaffung der Notstandshilfe in Oberösterreich. https://www.jku.at/fileadmin/gruppen/108/ICAE_Working_Papers/wp87.pdf