Den Moment genau zu bestimmen, an dem der Prozess der europäischen Integration in die falsche Richtung abgebogen ist, ist keine leichte Aufgabe. Und zwar deshalb, weil die – aus einer fortschrittlichen Perspektive – schändlichen Entwicklungen das Ergebnis von scheinbar keineswegs schändlichen Entscheidungen sind, die Jahrzehnte davor getroffen worden sind. Der Einfachheit halber können wir Europas Schwenk in Richtung Neoliberalismus bis in die Mitte der 1970er Jahre zurückverfolgen, als das sogenannte „keynesianische“ Regime, das sich im Westen nach dem Krieg durchgesetzt hatte, in eine ausgewachsene Krise geriet.
Angriff auf Vollbeschäftigungspolitik und Demokratie
Kämpfe für höhere Löhne, steigende Kosten und wachsende internationale Konkurrenz bewirkten einen Druck auf die Profite. Das rief den Zorn der Kapitalisten hervor. Auf einer noch grundlegenderen Ebene „drohte die Vollbeschäftigungspolitik das Fundament für die Überwindung des Kapitalismus selbst zu schaffen“: eine zunehmend selbstbewusste und kämpferische Arbeiterklasse begann sich mit den neuen gegenkulturellen Bewegungen der späten 1960er Jahre zu verbinden und forderte eine radikale Demokratisierung von Gesellschaft und Wirtschaft.
Wie der polnische Ökonom Michal Kalecki 30 Jahre zuvor vorausgesehen hatte, war die Vollbeschäftigung nicht bloß eine ökonomische Bedrohung für die herrschenden Klassen geworden, sondern genauso eine politische. Das beschäftigte die Eliten während der 1970er und 1980er, wie verschiedene Dokumente aus dieser Zeit bestätigen. Der Bericht „Krise der Demokratie“ der Trilateralen Kommission argumentierte 1975 aus dem Blickwinkel des Establishments, dass eine Mehrebenen-Antwort erforderlich wäre. Eine, die nicht nur die Schwächung der Verhandlungsmacht der ArbeiterInnen abzielte, sondern auch auf ein „größeres Maß an Bändigung der Demokratie“ und größeren Rückzug (oder „Nicht-Beteiligung“) der Zivilgesellschaft von den Handlungen des politischen Systems. Das sollte mit wachsender „Apathie“ erreicht werden.
Aushöhlung der nationalen Souveränität
Das zweite Ziel, das von der Trilateralen Kommission als „zentrale Voraussetzung“ für die Erreichung des ersten Ziels einschätzte: der Übergang zu einer neuen ökonomischen Ordnung (den Neoliberalismus) wurde hauptsächlich erreicht, indem die ökonomische Politik „entpolitisiert“ wurde. Das heißt: durch die Aushöhlung der nationalen Souveränität und die Eliminierung der demokratischen (parlamentarischen) Kontrolle über die Wirtschaftspolitik, z.B. indem Zentralbanken formell unabhängig von der Regierung gemacht wurden, sodass die neoliberale Umgestaltung von demokratischen Debatten und Bewegungen abgeschottet werden konnte. Durch diese „Selbstfesselung“ konnten die Regierungen die politischen Kosten für diese neoliberale Transformation, die klarerweise unpopuläre Maßnahmen nach sich zog, reduzieren, indem internationale Vereinbarungen und Verträge genauso wie multilaterale Institutionen dafür die Schuld zugeschoben wurde. Diese Politik wurde dann als unvermeidliches Ergebnis der neuen, harten Realitäten der Globalisierung verkauft.
In Westeuropa wurde dieser Kampf zur Demobilisierung der Bewegungen von unten bis zur letzten Konsequenz vorangetrieben. Auf den Zusammenbruch des Bretton Woods Systems der festen Wechselkurse im Jahr 1971, fuhren die meisten europäischen Staaten fort, mit das verschiedenen Formen von Währungsvereinbarungen zu experimentieren. Das führe schließlich 1979 zur Schaffung des Europäischen Währungssystems (EWS). Dieser „kompetitive Inflationsabbau“ führte zu niedrigem Wachstum und hoher Arbeitslosigkeit, wie sie für die europäische Wirtschaft in den 1980ern kennzeichnend war, und löste strukturelle Zahlungsbilanzdefizite in Ländern wie Italien und Frankreich aus.
Lohndruck und Austerität durch EU-Verträge
Die Entscheidung der Weichwährungsnationen, sich dem EWS anzuschließen, führte zu einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit und Exportanteilen, während die Hartwährungsnationen (vor allem Deutschland) davon hochgradig profitierten. Vom Standpunkt ersterer scheint das selbstzerstörerisch. Aber solche Entscheidungen können nie ausschließlich unter dem Aspekt nationaler Interessen verstanden werden, sondern müssen auch als Weg betrachtet werden, mit dem ein Teil der „nationalen Gemeinschaft“ den anderen Zügel auflegen kann, wie James Heartfield anmerkte. Das war eine Reaktion auf den Verteilungskampf der 1970er, als das europäische Kapital nach dem Staat rief, um die Arbeiterklasse und ihre Organisationen zu disziplinieren, damit – in erster Linie – die Profitraten durch Druck auf die Löhne zu sanieren. Nachdem ihnen die Währungsabwertung als Mittel zur Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit „geraubt“ worden war, konnten die nationalen Politik mit Verweis auf die Logik des „kompetitiven Inflationsabbaus“, die in das EWS eingeflochten war, Lohndruck und Austeritätspolitik als die einzigen Mitteln darzustellen, mit denen die Wettbewerbsfähigkeit des Landes wiederhergestellt werden könne.
Dieses Prisma der „Entpolitisierung/Entdemokratisierung“ – eine bereitwillige und bewusste Begrenzung der Rechte staatlicher Souveränität durch die nationalen Eliten, hilft uns alle folgenden Phasen der europäischen „Integration“ zu begreifen.
Ein zentraler Durchbruch erfolgte 1986 mit den der „Einheitlichen Europäischen Akte“, die alle Kapitalkontrollen in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) abschafften. Diese Kontrollen waren ein Hauptgrund dafür, dass es bis zu diesem Zeitpunkt noch einen letzten Rest von Währungsstabilität gab – aber über diese Punkte wurde im Delors Report 1989 hinweggesehen, der die logische Ausweitung der Binnenmarkt-Gesetzgebung war und als eine Blaupause für den Maastricht-Vertrag 1992 diente. Dieser Vertrag (formell „Der Vertag über die Europäische Union, VEU) legte einen offiziellen Zeitplan für die Einführung der Europäischen Währungsunion fest. Die meisten Teilnehmerstaaten stimmten zu, den Euro als ihre offizielle Währung einzuführen und 1999 ihre Kontrolle über die Geldpolitik von ihren jeweiligen Zentralbanken an die EZB zu übertragen. Deutschland bestand auch darauf, dass das einzige einzige Ziel der EZB sein solle, die Inflation niedrig zu halten: das Haupt-, wenn nicht sogar ihr einziges Kriterium für EZB-Politik würde die Sicherstellung der Preisstabilität sein. Außerdem verhinderten die Artikel 123 bis 135 der neuen Fassung des Maastricht-Vertrages (der „Vertrag über die Arbeitsweise der EU“, VAEU), ganz klar die Finanzierung öffentlicher Defizite durch die EZB.
Im Nachhinein scheint das Ziel klar: Ausweitung der Logik des freien Marktes auf die öffentlichen Staatsfinanzen, um eine disziplinierende Wirkung zu entfalten. Wir haben die hässlichen Folgen davon in Europa im Gefolge der Finanzkrise 2007-2009 gesehen. Jean-Claude Trichet, früherer EZB-Präsident, machte kein Geheimnis daraus, dass die Weigerung der Zentralbank, öffentliche Anleihen in der ersten Phase der Finanzkrise zu unterstützen, darauf abzielte, die Regierungen der Eurozone zu zwingen, ihre Budgets zu konsolidieren.
Mit dem Euro auf den Status einer Provinzbehörde oder Kolonie
Der Maastricht-Vertrag legte auch strikte Defizit- und Schuldenobergrenzen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) fest, die schrittweise verschärft wurden. Tatsächlich beraubte das die Länder ihrer Budgetautonomie, ohne die Verfügung über die Budgetausgaben an eine höhere Autorität zu übertragen. Wie Heartfield schrieb, kann die Währungsunion daher in der Tat „als Prozess der Depolitisierung/Entdemokratisierung eines wesentlichen Pfeilers der Wirtschafts- und Finanzverwaltung, der Währung“ betrachtet werden. In diesem Sinn kann die Einführung des Euros als Endpunkt des Kampfes der europäischen Eliten gegen Souveränität und Demokratie gesehen werden.
Wie der kürzlich verstorbene große britische Ökonom Wynne Godley 1992 weitblickend schrieb, ist das Wesen der nationalen Unabhängigkeit die Macht, eigenes Geld herauszugeben und sich bei der eigenen Zentralbank zu refinanzieren. Indem sie den Euro einführten, sinken die Mitgliedsstaaten deshalb gewissermaßen auf den Status eine Provinzbehörde oder Kolonie herab.
Die Reichweite von EU-Verträgen reicht jedoch weit über die Fiskal- und Geldpolitik hinaus. Diese Texte legen tatsächlich die primäre rechtliche Struktur für die EU-Wirtschaftspolitik fest. Das ist seit damals im Wesentlichen unverändert geblieben. Die Richtlinien der EU sind klar im Vorwort zum Vorspann über Wirtschaftspolitik ausgeführt, wo gesagt wird, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten eine Wirtschaftspolitik „gemäß dem Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ zu führen haben und sich zum Leitprinzip „Preisstabilität, solider öffentlicher Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen und eine ausgeglichenen Zahlungsbilanz“ verpflichten müssen.
Andere wichtige Artikel im VAEU sind unter anderem:
- Artikel 81, der jegliche Intervention der Regierung in die Wirtschaft verbietet, die den Handel zwischen den Mitgliedsstaaten betrifft
- Artikel 121, der dem Europäischen Rat und der Europäischen Kommission – beides keine gewählten Gremien – das Recht gibt, „umfassende Richtlinien zur Wirtschafspolitik der Mitgliedsstaaten und der Union zu entwerfen“,
- Artikel 126, der Sanktionen regelt, die im Fall eines „übermäßigen Defizits“ zu verhängen sind
- Artikel 151, der festhält, dass die EU-Arbeits- und Sozialpolitik die „Wettbewerbsfähigkeit der EU-Wirtschaft“ berücksichtigen muss
- Artikel 107, der Staatshilfe an nationale Schlüsselindustrien verbietet.
Keynesianismus außerhalb des gesetzlich Zulässigen
Im Grunde zementieren diese Verträge den Neoliberalismus in der Struktur der Europäischen Union ein; Keynesianische Politik, die in vergangenen Jahrzehnten alltäglich war, befindet sich damit im Wesentlichen außerhalb des gesetzlich Zulässigen. Sie verhindert (für die Euro-Staaten) die Währungsabwertung und direkte Notenbankfinanzierung der Regierungsschulden. Sie verhindern nachfrageorientierte Politik bzw. den strategischen Einsatz von öffentlichen Investitionen. Und sie setzen einer Politik, die soziale Sicherheit und Beschäftigung durch öffentliche Ausgaben schaffen möchte, enge Grenzen. Sie haben die Basis dafür geschaffen, die europäischen Ökonomien und Gesellschaften einem umfassenden Umbau zu unterziehen.
Die unveränderbare Verfassung
Die rechtlichen Auswirkungen dieser Verträge, die oft von sozialen und wirtschaftlichen Überlegungen überschattet werden, können gar nicht überschätzt werden. Und zwar deshalb, weil – trotzdem Frankreich und die Niederlande großartigerweise 2005 in Volksabstimmungen gegen die gemeinsame EU-Verfassung gestimmt haben - „diese Verträge letztlich eine Verfassungsordnung für die EU etablieren“. Aber es ist aufgrund ihrer supranationalen (und daher inhärent undemokratischen) Natur eine besondere Verfassung. Im Gegensatz zu nationalen Verfassungen, kann sie nicht auf demokratische Art und Weise von den Bürgern geändert werden: sie kann nur einstimmig im Rahmen einer neuen internationalen Vereinbarung geändert werden. De facto bedeutet das, dass sie nicht geändert werden kann. Das einzige, was einzelne Staaten wirklich tun können, ist, die gesamte Struktur zu verwerfen.
Als Syriza in die Regierung in Griechenland übernahm, sagte Jean-Claude Juncker als Präsident der Europäischen Kommission: „Es gibt keine demokratische Wahl gegen die EU-Verträge.“
Vor-diktatorische Regierungsstrukturen
Im Gegensatz zu anderen Verfassungen und Gesetzeswerken, die grundsätzlich die Beziehung zwischen den verschiedenen staatlichen Institutionen und Grundrechten der Bürger festlegen, „bestimmt die tatsächliche EU-Verfassung außerdem „eine bestimmte ökonomische Philosophie (oder Ideologie), auf den sie dann detaillierte Regelungen für die Wirtschaftspolitik gründet bzw. konstitutionell erzwingt.“
Das tut sie, indem sie Normen und Regeln der nationalen Verfassungen daran bindet, und diese so schrittweise von Innen aushöhlt. Das gibt dem Europäischen Gerichtshof, der die Letztentscheidung über Rechtsstreitigkeiten zwischen nationalen Regierungen und EU-Institutionen hat, eine enorme Machtfülle. Ist überrascht nicht, dass Alec Stone Sweet, ein internationaler Rechtsexperte, das als einen „juristischen Staatsstreich“ bezeichnete.
In den letzten Jahren hat sich dieser autoritäre EU-Konstitutionalismus in eine noch anti-demokratischere Form entwickelt, das sich von Elementen der formalen Demokratie losreißt. Das veranlasst einige Beobachter zur Vermutung, dass die EU „leicht zu einem Prototyp für Post-Demokratie und sogar vor-diktatorische Regierungsstrukturen gegen nationale Souveränität und Demokratien“ werden könnte. Wir sahen das in Griechenland 2015 als die EZB tatsächlich den griechischen Banken die Liquidität abschnitt, um die Syriza-Regierung zur Strecke zu bringen und sie zu zwingen, das dritte Bailout-Memorandum zu akzeptieren.“
„Fromme Illusion“
Als Schlussfolgerung: Jeder Glaube, die EU könne „demokratisiert“ und in eine fortschrittliche Richtung reformiert werden, ist eine fromme Illusion. Das würde nicht nur das unmögliche gleichzeitige Auftreten auf internationaler Ebene einer Allianz von linken Bewegungen und Regierungen erfordern. Grundsätzlich kann ein System, das mit dem spezifischen Ziel geschaffen wurde, die Demokratie zu beschränken, nicht demokratisiert werden. Es kann nur abgelehnt werden.
Thomas Fazi (Schriftsteller, Journalist, Übersetzer und Forscher)
Bill Mitchell (Professor für Wirtschaftswissenschaften und Direktor des Zentrums für Vollbeschäftigung und Gerechtigkeit an der Universität von Newcastle, Australien
Original: https://braveneweurope.com/thomas-fazi-and-william-mitchell-the-eu-cannot-be-democratised-heres-why