Im heißen Sommer 2021 ist das Verkehrsthema buchstäblich hochgekocht, mit Diskussionen, ob die Nicht-Realisierung von Autobahnprojekten zum Absterben des Landes und dem wirtschaftlichen Untergang der Nation führt, wie es von diversen Politikern beschworen wurde, die im Denken der 1960er Jahre steckengeblieben sind. Gescheite Köpfe haben längst realisiert, dass attraktive Öffis und der Verzicht auf neue Autobahnen nötig sind für Umwelt und Lebensqualität. Die Eisenbahnpolitik im Nordosten Österreichs erfüllt allerdings bereits seit Jahrzehnten großteils mit Schaudern. Im Folgenden eine Blütenlese an Seltsamkeiten. Alle Beispiele werden aus Platzgründen verkürzt geschildert, wie alles in unserer Welt sind die Zusammenhänge meist etwas komplexer.
Ziemlich genau parallel zur staugeplagten Wiener Stadtautobahn „Südosttangente“ (die ja laut ASFINAG durch den Bau der Lobauautobahn angeblich „entlastet“ werden solle) verläuft eine Wiener Schnellbahnlinie, die S80. Auch sie verbindet den Bezirk „Donaustadt“, jenseits der Donau gelegen, mit dem Süden und Südwesten Wiens. Doch diese wichtige innerstädtische Schnellbahn fährt nicht etwa im 5- oder wenigstens 10-Minuten-Takt. Ursprünglich (auch in der Verkehrsspitze) mit mageren 3 Zügen pro Stunde unterwegs, wurden die Intervalle vor einigen Jahren auf 2 Züge pro Stunde ausgedünnt. Überdies wurden zwei wichtige Haltestellen aufgelassen, eine davon („Hausfeldstraße“) wäre eine wichtige Verknüpfung mit einer Art „Schnellstraßenbahnlinie“ am Nordwestrand des Großbauprojekts „Seestadt“, wo stattdessen zwei Autobahnauffahrten Richtung Lobauautobahn geplant sind.
Engpass Richtung Osten
Ein Grund für die erbärmlichen Intervalle der S80 ist die zweigleisige Donauquerung der Ostbahnbrücke, wo bereits nach der Ostöffnung von 1989 erkannt wurde, dass ein viergleisiger Ausbau nötig ist. Auf dieser Strecke fahren Schnellbahnen, Regio-Expresszüge und Intercity-Züge, sowie Güterzüge in unterschiedlichem Tempo, können einander innerstädtisch aber nicht überholen. Außerhalb der Stadtgrenze bis zum Grenzfluss March ist die Verbindung sogar eingleisig und nicht elektrifiziert - wohlgemerkt die Verbindung von Wien Hbf nach Bratislava Hbf im Jahr 2021. Züge aller Sorten müssen also in bestimmten Stationen warten, wenn ein Gegenzug „vorbei will“. Ein dichter S80-Schnellbahntakt im Raum Wien (wo es immerhin Oberleitung und zwei Gleise gibt) würde Schnellzüge etc. blockieren. Die in den 1990er Jahren geplante viergleisige Donauquerung (für die im Wiener Prater bereits die Trasse angelegt wurde) verschwand in den Schubladen, man baute lieber Hochgeschwindigkeitsstrecken nach Westen für einige Minuten Fahrzeitverkürzung und sehr teure Tunnelgroßprojekte unter Brenner, Koralpe und Semmering.
Rückbau zweigleisiger Strecken
Die erwähnte eingleisige Hauptverbindung von Wien Hbf zur slowakischen Grenze war zur Zeit der Monarchie natürlich zweigleisig. Im Naturschutzgebiet Marchauen steht noch eine Pfeilerruine vom einstigen zweiten Gleis. Nicht der „Eiserne Vorhang“, sondern schon die Wirtschaftskrise der späten 1920er Jahre bewirkte, dass ca. 1928 das Gleis 2 entfernt wurde. Derzeit laufen zähe Planungen für eine Elektrifizierung und den stückweisen Bau eines zweiten Gleises.
In jenen 1920er Jahren wurde auch der imposante Wiener Nordwestbahnhof für den Personenverkehr aufgelassen, die Halle wurde 1927 als Indoor-Kunstschnee-Schipiste verwendet, sowie ab 1938 für NS-Propaganda und die Ausstellung „Der ewige Jude“ missbraucht. Künftig soll dort der Schienengütertransport beendet und ein Stadtviertel mit Hochhäusern errichtet werden.
Auch die etwas kurvenreiche Bahnstrecke von Wien über Gmünd nach Prag war zweigleisig, hier wurde 1959 von Absdorf-Hippersdorf (kurz nach der Tullner Donaubrücke) bis zur Staatsgrenze im gesamten Waldviertel das zweite Gleis entfernt, was heute auf dieser wichtigen Pendlerstrecke eine dichte Zugfolge erschwert. Das Schotterbett un d breite Brückenpfeiler erinnern noch an Gleis 2. Neue Planungen umfassten ursprünglich eine „zeitgemäße“ Waldviertel-Autobahn, die gottseidank seit 2020 abgewendet erscheint, sowie nun teure Teil-Neubauten der Strecke, um die Fahrzeit zu verkürzen. Ich denke, in unserer hektischen Zeit sollte es vielleicht wichtiger sein, dass die Fahrt angenehm empfunden wird, anstatt zwischen Lärmschutzwenden rasend einige Minuten früher am Ziel zu sein. Prof. Hermann Knoflacher analysierte, dass Hochgeschwindigkeitszüge nicht eine Verkürzung der täglichen Pendlerfahrzeiten, sondern eine Vergrößerung des Tages-Pendler-Einzugsbereichs bewirken.
Der Eiserne Vorhang lebt!
Als 1870 von Wien über Laa an der Thaya nach Brünn ein Ostbahn-Ableger gebaut wurde (der sich übrigens westlich (!) der Nordbahn befindet), wurden Trasse und Brückenpfeiler bereits für zwei Gleise ausgelegt, die Strecke blieb aber bis heute eingleisig. Jedoch wurde 1945 ein wenige hundert Meter langes Schienenstück von Laa an der Thaya über die Grenze ins tschechische Hevlin entfernt. Heute, 30 Jahre nach dem Fall der Ostöffnung, fehlt das Schienenstück noch immer. Niederösterreich propagierte stattdessen erfolgreich den Bau der parallel verlaufenden Nordautobahn A5 von Wien Richtung Tschechien. Tschechen fahren nun per Auto in die Therme Laa, Österreicher per Auto in die wundervolle Region um Nikolsburg mit den Schlössern Valtice (Feldsberg) und Lednice (Eisgrub).
Ein Trauerspiel ist der Umgang der Politik mit der Thayatalbahn, die das Waldviertel mit Tschechien verbunden hat. 1986 wurde der Personenverkehr nördlich der Stadt Waidhofen an der Thaya eingestellt, doch ab 1989 gab es immer wieder Überlegungen zur Reaktivierung der grenzüberschreitenden Strecke, vor allem auch für den Güterverkehr, zumal täglich Kolonnen von Schwer-LKWs mit Baumstämmen aus Tschechien quer durch die Waldviertler Dörfer zu holzverarbeitenden Betrieben im Bereich Zwettl donnern und auch diese Firmen an einem Bahntransport interessiert waren.
Solange die Strecke den ÖBB gehörte, propagierten das Land und vor allem der damalige Landeshauptmann Erwin Pröll vollmundig die Wiederinbetriebnahme, zumal die ÖBB die Strecke aktiv verfallen ließen und zB 2006 Hochwasserschäden nicht reparieren wollten. Bei der grenzüberschreitenden Landesausstellung im böhmischen Telč sagte Pröll im Jänner 2009 den tschechischen Kollegen zu, dass der Lückenschluss (Fratres - Slavonice) hohe Priorität habe. Tschechien modernisierte daraufhin seinen Teil der Strecke, während Pröll und das Land NÖ im Jänner 2010 mit ÖBB und Bund die Übernahme des NÖ Teils der Thayatalbahn durch das Land vereinbarte. Doch statt einer Revitalisierung stoppte NÖ dann auch den Personenverkehr südlich von Waidhofen an der Thaya, also den Zubringer zur Franz Josephs Bahn, ließ Gleise demontieren und um viele Millionen Euro auf der Trasse einen betonierten Radweg errichten, der genauso gut neben der Trasse hätte verlaufen können. Für die Holz-LKWs sollen nun teure Umfahrungen gebaut werden.
Die Demolierung der Ybbstalbahn
Österreich besaß eine ganze Reihe von Schmalspurbahnen, die sich zwar (je nach Instandhaltung) zuweilen nicht durch allzu flotte Fahrgeschwindigkeiten auszeichneten, aber als Tourismusmagnet, auch für den Radtransport, ein faszinierendes Kulturgut darstellten. Berüchtigt ist die skandalöse Zerstörung der Salzkammergut-Lokalbahn von Bad Ischl über Wolfgangsee und Mondsee nach Salzburg im Jahr 1957, die auch Tourismusmanager heute als riesigen Fehler ansehen.
Während die Pinzgaubahn nach Krimml in den Hohen Tauern mit modernen Garnituren und mit Nostalgiezügen sowohl Pendler, als auch Touristen befördert, wurden große Teile der Ybbstalbahn, die in einer faszinierenden Voralpenlandschaft unterwegs war, in gemeinschaftlichem Handeln von ÖBB und Land Niederösterreich vernichtet. Die Bergstrecke von Lunz am See nach Kienberg-Gaming wurde bereits 1988 eingestellt und von einer privaten Gesellschaft ab 1990 sehr erfolgreich als Tourismusbahn gerettet. Die ÖBB ließen die restliche Strecke so stark verfallen, dass die Fahrzeiten immer länger wurden. Hochwasserschäden 2006 und 2007 wurden nur widerwillig nach langem Zögern notdürftig behoben. Mutwillige Verschlechterung der Zugintervalle und Parallelführung von Bussen verschlechterten die Attraktivität, und der höchst umstrittene (um es höflich auszudrücken) NÖ Verkehrsplaner Friedrich Zibuschka empfahl 2008 eine Einstellung der Strecke. Private Initiativen wollten damals die Bahn übernehmen, darunter eine um den Ex-ÖBB-Generaldirektor Rüdiger vorm Walde und die private Bayerische Oberlandbahn. Nach Muren im Jahr 2009 weigerten sich die ÖBB, die Strecke wieder herzustellen. Ende 2010 übernahm das Land NÖ die Strecke von den ÖBB, um sie anschließend formell stillzulegen - die oben erwähnten Übernahmeangebote wurden abgelehnt.
Ich habe damals mit den ÖVP-Bürgermeistern und dem einzigen SPÖ-Bürgermeister des Ybbstals für einen Artikel ausführlich telefoniert. Die ÖVP-Bürgermeister gaben sich großteils „erfreut“ über die Stilllegung, allerdings klang es mitunter eher nach Parteigehorsam und nicht überzeugend. Gemeinden brauchen ja Landesgelder für verschiedene Vorhaben. Als ich den Pressesprecher des damaligen NÖ Verkehrslandesrates Johann Heuras fragte, warum die Salzburger im Pinzgau mit ihrer Bahn so erfolgreich sind, meinte er sinngemäß, dass der Pinzgau eben eine schöne Tourismusgegend sei, mit dem Ybbstal könne man das nicht vergleichen. Nun, Niederösterreichs Politik scheint ja ihre Voralpen nicht sehr zu schätzen.... Nach Entfernung der Gleise wurde teilweise ein Radweg errichtet, allerdings gibt es in den Bussen nun, im Gegensatz zu den Zügen, keine Möglichkeit zum Radtransport mehr. Die Strecke von Göstling nach Lunz konnte 2013 vom privaten Betreiber der Bergstrecke für Tourismuszüge gerettet werden. Der Seitenast nach Ybbsitz wurde u.a. deshalb eingestellt, weil die Anrainer angeblich durch das Pfeifen der Züge bei Straßenkreuzungen „gestört“ wurden. Tja, unser Land ist voller Seltsamkeiten.
Obige ausgewählte Geschichten sind nur ein kleiner Teil eines facettenreichen Themas. Eigentlich fehlt hier die spannende Schilderung, warum der neue Hauptbahnhof Wien zu klein geplant wurde, um mehr Platz für Hochhäuser zu schaffen. Oder die großen Themen Fahrradmitnahme, Bahnhofsgestaltung und vor allem Gütertransport: Der gesamte Rübentransport östlich von Wien wurde zB von der Schiene auf LKW-Transport verlagert. Natürlich ist nicht alles schlecht bei den ÖBB. Aber man muss Fehler erkennen, um Öffis zu verbessern.
(siehe auch die zugehörige Bildergalerie)
Erschienen im Werkstattblatt 2/2021 der Solidarwerkstatt