Ungleichheit und „Verteilung“

Einige Daten zur Entwicklung der Einkommen in Österreich

Von Anfang weg ist zu sagen: Eine Darstellung der Ungleichheit ist noch keine Klassen-Analyse. Aber in den folgenden Bemerkungen geht es um was Anderes: Es soll einfach die Entwicklung von Ungleichheit anhand von veröffentlichten Daten dargestellt werden. Da fragt sich’s gleich: Wie gut bilden diese Zahlen und Graphiken die tatsächliche Ungleichheit wirklich ab? Die Antwort ist: nicht besonders gut.

Man möchte am liebsten die Ungleichheit in einer einzigen Kennzahl oder einer Graphik darstellen. Aber da stößt man schnell an die Grenzen des Machbaren. Sicher: Da gibt es den Gini-Koeffizienten; oder den Theil-Koeffizienten; oder den Atkinson-Koeffizienten und welche synthetische Kennzahlen es sonst noch gibt. Aber zum Einen haben wir keine verlässlichen Reihen über eine annehmbar lange Zeit, sagen wir: drei Jahrzehnte. Denn das ist notwendig: Kurzfristig stören Konjunktur-Effekte das Bild der Entwicklung. Die Finanz- und Eurokrise von 2008 erweckt z. B. den Eindruck, als gäbe es eine Korrektur zum Besseren. Aber Krisen und auch nur Rezessionen haben gewöhnlich einen leichten Rückgang der Ungleichheit zur Folge.

 

Graphik 1

Quelle: WIFO-Beitrag zum Sozialbericht 2012 und 2015

 

Um die konjunkturellen Bewegungen heraus zu rechnen, kann man eine Korrelation kalkulie­ren. Die gibt den Zeit-Trend bereinigt wieder. Die Pass-Genauigkeit lässt sich am Koeffizi­enten r2 oder r ablesen. Mit r2 = 0,94 für den linearen Trend ist er bei den Unselbständigen sehr hoch. Die Darstellung des Gini hier zeigt: Die Ungleichheit steigt jährlich um einen Drittel-Punkt. Doch Achtung! Hier sind nur die Einkommen der Unselbständigen dargestellt. Die Daten sind so erhoben und verfügbar, dass einigermaßen (!) gesicherte Aussagen in Österreich – das ist keineswegs über­all so – nur über Unselbständige möglich sind. Um also nicht von vorneherein in die Irre zu gehen, muss man unbedingt mehrere Indikatoren und Graphiken ansehen.

Ökonomen sprechen über die funktionelle Einkommensverteilung. Es geht dabei um die Ver­teilung zwischen Unselbständigen und Selbständigen; nur mit größter Vorsicht ließe sich sagen: zwischen Arbeit und Kapital. Darüber sprechen wir gleich noch. Vorerst die Daten. Sie finden sich in der Lohnquote, dem Anteil des Unselbständigen-Einkommens am Verfügbaren Einkommen. Ich nehme hier erst die AK-Graphik, die dies als Anteil am Volkseinkommen rechnet.

Wir sehen, dass der Arbeitnehmer-Anteil langfristig ziemlich stark fällt, aber in der Finanz­krise einen wirklichen Knick nach oben macht. Erst in den letzten Jahren „stimmt“ die Richtung wieder: Der Anteil fällt.

Aber bei den Unselbständigen-Einkommen sind auch die hohen Einkommen des Manage­ments dabei. Die sind ganz eindeutig Teil des Kapital-Anteils, welcher an seine Geschäfts­führer weitergegeben wird. Es verfälscht das Bild vollkommen, wenn man sie hier einrechnet. Aber das ist auch beabsichtigt.

 

Graphik 2

Quelle: A&W

 

Es ist auffällig, dass die Lohnquote viel stärker zackt als der Gini-Koeffizient, das Gesamt­maß der Ungleichheit nur unter den Unselbständigen. Das ist kennzeichnend und wichtig. Denn in der Lohnquote drückt sich auch aus, dass sich die Unternehmen bei ihrer Planung sozusagen verrechnen. In einer Rezession kann man die eigenen Produkte nicht so gut abset­zen – die Gewinne sinken stark. Aber die Unternehmen bezahlen deswegen ihre Manager („unselbständig“) deswegen nicht schlechter. Oft bleiben sogar die „erfolgsabhängigen“ Gehalts-Bestandteile (Optionen etc.) gleich. Die klügeren Unternehmen versuchen auch, ihre erfahrenen und daher meist etwas besser bezahlten Arbeitskräfte zu halten, in Europa häufiger als in den USA. Folge ist ein Sinken des Unternehmer-Anteils, aber nur im geringen Maß der Ungleichheit.

Alternativ biete ich hier die aus den VGR-Daten selbst gerechnete Lohnquote an, wobei hier die Lohnquote der Anteil der Arbeitnehmer-Entgelte am Verfügbaren Einkommen ist. Damit entfallen die nicht ausgeschütteten Gewinne, und sie stellt mehr auf den Konsum ab. Gleich­zeitig gibt es eine Regression. Sie ist, wie schon bemerkt, weniger passgenau als der Gini-Ko­effizient, weil stärker konjunkturabhängig.

 

Graphik 3

Datenquelle: VGR Statistik Österreich

„Bereinigt“ soll heißen: Die Verschiebungen von den Selbständigen zu den Unselbständigen – welche die Lohnquote automatisch erhöhen müssten – wird herausgerechnet. Doch dieser Aspekt ist seit den 1980er quantitativ belanglos, weil die Abwanderung aus der selbständigen Landwirtschaft, von den Bauern, keine Rolle mehr spielt.

 

Graphik 4

Achtung: Das sind nicht um die Inflation bereinigte Zahlen! Das unterste Viertel verliert also tatsächlich an Kaufkraft, wie wir gleich sehen werden!

 

Erst jetzt macht es Sinn, sich die Verteilung unter den Unselbständigen anzusehen.

Das Problem mit dem nächsten Maß, jenem der unterschiedlichen Lohnsteigerungen oben und unten, ist die Abgrenzung. Hier stellt man uns das unterste Viertel und das oberste Viertel vor. Aber wir wissen aus Daten von außerhalb Österreichs (u. a. von Piketty): Die wirkliche, die obszöne Steigerung von Ungleichheit findet ganz oben statt: beim obersten Prozent; sogar die obersten 5 %, die auch noch reichliche Zuwächse erhalten, sind dagegen vergleichweise arm dran. Dieses Auseinanderklaffen ist also wesentlich akzentuierter, als es hier erscheint. Man bräuchte die Originaldaten, um diese Verhältnisse zu rechnen. In einzelnen Jahren hat man das oberste Prozent gerechnet, aber leider nicht systematisch.

Bisher stellten wir die Lohnentwicklung in laufenden Preisen dar. Der stetige Kaufkraftverlust durch die laufende Inflation ist hier also nicht sichtbar. Diese Darstellung  hat ihren guten Grund. Wir können, und wir werden dies gleich tun, die Preissteigerungen herausrechnen. Aber dabei dürfen wir nicht naiv vorgehen. Denn der Verbraucherpreis-Index ist eine allge­meine Kennzahl, welche keine Unterscheidung nach Einkommen macht. Wir wissen aber sehr gut, dass die Preise nicht gleichmäßig steigen; dass seit Längerem vor allem die Güter des täglichen Bedarfs und die Wohnungen besonders starke Steigerungen zu verzeichnen haben. Das sind aber jene Waren welche im Konsum der Unter- und Mittelschichten ein besonders hohes Gewicht haben. Oder deutlich gesagt: Der Verbraucherpreis-Index unterschätzt die Preissteigerungen für die niederen Einkommen und überschätzt gleichzeitig jene für die hohen Einkommen. Der wirkliche Unterschied in der Kaufkraft ist also größer, als es die folgenden Kurven zeigen.

Das ist durchaus bekannt. Es wird am Schlagwort des „Pensionisten-Indexes“ diskutiert. Und hier gibt es eine kennzeichnende Geschichte. Due Pensionisten-Verbände hatte die Statistik Österreich beauftragt, einen Pensionisten-Index zu rechnen. Wie das? Wozu braucht es einen solchen Auftrag? Wäre das nicht eine selbstverständliche Aufgabe?

Die amtliche Statistik erhebt und wertet nur das aus, wozu sie durch Gesetze oder Verordnun­gen verpflichtet ist. Ein nach Schichten differenzierter Index gehört nicht dazu. Sie muss also einen eigenen Auftrag dazu erhalten, und der macht hohe Kosten. Die richten sich u. a. nach der Größe des Datensatzes.

Als die Pensionistenverbände diesen Auftrag gaben, mussten sie ersten dafür bezahlen. Zwei­tens grenzte die amtliche Statistik dann den Sonder-Index institutionell, nach Erwerbs-Status ab. Klar; oder doch nicht? Es gibt natürlich auch recht gut gestellte Pensionisten, Pensionisten mit hohen Einkommen. Damit war das Ergebnis nicht sonderlich aussagekräftig. Der Unter­schied hängt ja nicht primär am Erwerbsstatus, also der Pension, sondern an der Einkommens­höhe. Es geht also nicht hauptsächlich um einen Pensionisten-Index, sondern es ginge um einen Index der geringen Einkommen.

Weil der Unterschied zwischen dem allgemeinen Preis-Index und dem Pensionisten-Index sich in Grenzen hielt, standen den Pensionisten-Verbänden die hohen Kosten schließlich nicht mehr dafür, und sie erneuerten den Auftrag nicht mehr.

Hier sollte man im Vorübergehen einen Blick auf das Spitzenpersonal der amtlichen Statistik werfen. In letzter Zeit tritt des Öfteren Konrad Pesendorfer als „der Generaldirektor“ der Statistik Österreich in der Öffentlichkeit auf, und zwar teils mit ziemlich unqualifizierten Wortmeldungen. Aber Pesendorfer ist nicht „der“ Generaldirektor, sondern einer von zweien, und zwar der wesentlich dienstjüngere. Aber das nur nebenbei. Pesendorfer war Sekretär bei Faymann und wurde dann aus dessen Kabinett auf einen Posten bei der OECD geschickt – dem Sturmtrupp des Neoliberalismus. Mit diesem Hintergrund wundert dann nicht mehr, dass solche wesentliche Fragen wie ein sozial differenzierter Index keine Priorität sind.

 

Graphik 5: Preisbereinigte Einkommens-Entwicklung

Quelle für Graphik 4 bis 7: Statistik Österreich für die Einkommensberichte seit 1997

 

An dieser Graphik sieht man sehr gut, dass selbst das obere Viertel bis auf die letzten Jahre keinen Kaufkraft-Zuwachs hat, das unterste Viertel aber deutlich verliert. In der Grafik 7 wird dies noch deutlicher, trotz der verzerrenden Preisbereinigung.

 

Graphik 6

Wiederum Achtung: nicht preisbereinigt!

 

Graphik 7

 

Hier ist die jährliche Steigerung der unteren und der oberen Einkommen dargestellt. Man sieht, dass die Zunahme der Ungleichheit hauptsächlich eine Frage der Männer-Einkommen ist, wobei allerdings die Frauen-Einkommen auf deutlich niedrigerem Niveau.

Zu dieser Darstellung wäre eine Menge zu sagen. Beschränken wir uns auf einige wichtige Hervorhebungen!

Wir haben im Grund mit diesen Graphiken ohne viel weiteres Herumreden die Erklärung für den allgemeinen Frust, die sogenannte „Politikverdrossenheit“. Das sind Daten aus Öster­reich. Anderswo ist die Entwicklung noch ausgeprägter, auch wenn sich die Regierung der Industriellenvereinigung bemüht, den „Vorsprung“ der anderen Gesellschaften in der Verstärkung der Ungleichheit aufzuholen.

Das dritte Quartil stellt, wenn wir die Einkommen von unten nach oben von 0 bis 100 ordnen, den „Punkt 75“ dar. Das ist eine ziemlich repräsentative Stellung für die mittlere Mittel­schicht, also gut gestellten Leuten, die aber keineswegs reich, nicht einmal wirklich wohl­habend sind. Und wir sehen, dass selbst diese schon ziemlich weit oben angesiedelte Schicht im letzten Vierteljahrhundert kaum einen realen Einkommenszuwachs lukrieren konnte. Der „Punkt 25“, das erste Quartil, entspricht etwa der mittleren Unterschicht, verlor ziemlich stark. Der  Abstand zwischen diesen beiden Schichten wurde erkenntlich größer.

Aber ein bisschen genauer können wir es doch machen. Wir wissen zwar wenig über das oberste Prozent. Aber immerhin werden in den Einkommensberichten für die Unselbständigen die Dezile ausgewiesen, also die Punkte 10, 20, 30, usw. Und da zeigt sich schon ein bisschen stärker, wohin die Entwicklung geht. Der Unterschied zwischen dem ersten Dezil und dem 9. Dezil wird immer größer. Im Jahr 2000 machte das Brutto-Gehalt des 9. Dezils, also der „Stelle 90“ im oben erklärten Sinn, das 16,5fache des ersten Dezils aus. Im letzten verfügba­ren Jahr (2017) stieg dieses Verhältnis auf das 23,5fache. Der langjährige Trend geht mit ziemlich geringen Ausschlägen einigermaßen steil nach oben. Die „Leistungsträger“, wie sich der Finanzminister Löger von der ÖVP so gerne ausdrückt, können zufrieden sein. Ihre Regie­rung sorgt für sie. Waren dies bisher Brutto-Bezüge, wo doch eine gewisse Umverteilung danach erfolgte, so sollen sie in Hinkunft „mehr im Börsel“ vorfinden. Sie finden dies jetzt, im Jänner, vor der versprochenen „Steuerreform“, schon vor. Der sogenannte Familienbonus ist eine der ausgiebigsten Umverteilungs-Aktionen nach oben seit dem Zweiten Weltkrieg. Und die Frau Rendi-Wagner, diese „großartige Frau“, wie die dümmliche Sprachregelung in der SPÖ lautet, nickt beifällig dazu und meint, man solle sich doch nicht so haben; jetzt über Vermögens- oder ähnliche Steuern zu sprechen, sei ganz verfehlt. Das vergiftete Geschenk des Herrn Kern an die SPÖ beginnt zu wirken.

 

Graphik 8

 

Die EU wurde dazu gegründet, diesen Prozess „irrversibel“ zu machen, wie sie es selbst oft genug in aller Klarheit sagt. Doch ein deutscher Regierungssprecher tröstet uns: Die Regierung lässt niemanden verhungern.

Über Haushalts-Einkommen müssten wir ein anderes Mal sprechen. Haushalte sind Kon­sum-Einheiten und wären daher für die Verteilungsanalyse besonders interessant. Aber hier gibt es einen fast grotesken Sachverhalt: Eine umfangreiche und teure regelmäßige Ein­kommens-Erhebung (Euro-SILC) wurde eingerichtet. Aber die Ergebnisse werden in einer Art ausgewertet, die wir nur als tatsachenwidrige Propaganda kennzeichnen können: Es werden fast nur „Äquivalenz-Einkommen“ ausgewiesen – aber das sind keine Einkommen. Das werden wir, soweit etwas daraus zu entnehmen ist, ein anderes Mal besprechen. Allerdings wäre eine eigene Auswertung der Einzel-Daten – die grundsätzlich möglich wäre – eine Arbeit für ein umfangreiches und jahrelanges Projekt.