Noch ein Neoliberaler am Schalthebel – Arbeitslose fürchtet euch!

Was der neue Arbeitsminister Martin Kocher verspricht und was er nicht bereit ist zu leisten.

Der neue Arbeitsminister Martin Kocher wird von vielen als Experte begrüßt und will sich auch selbst als „neutralen Experten“ verkaufen (ZiB 2, 11.01.2021). Doch Expert_innentum bedeutet nicht – und das weiß wahrscheinlich auch Kocher –, dass eine neutrale und unanfechtbare Position einzunehmen. Die Position, die Arbeitsminister Kocher vertritt, liegt ganz im Trend und untermauert die türkis-grüne Politik: Er ist eindeutig wirtschaftsliberal. Kocher bewertet daher den von der EU geforderten Kurs einer geringen Staatsverschuldung grundsätzlich als positiv (Der Standard, 11.1.2021) sowie den Sozialstaat als potenziell „ineffizent“ und innovationsfeindlich (Wiener Zeitung, 20.01.2018). Obschon er den Wert der Versicherungsleistungen – wie etwa im Falle der Arbeitslosenversicherung – durchaus anerkennt, gibt er in vielen Bereichen dem Markt und der persönlichen Vorsorge den Vorzug.

Was bedeutet diese Einstellung in Bezug auf die von ihm übernommenen Arbeitsmarktagenden und die Schritte, die er dort setzen wird, um die Rekordarbeitslosigkeit in Folge der Pandemie einzudämmen?

In seinem ersten Interview in der ZiB 2 sprach sich Kocher sofort und eindeutig gegen eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes aus. „Wir wissen, dass der Anreiz, sich einen Job zu suchen, sinkt, wenn das Arbeitslosengeld zu hoch ist“, ließ er dort verlauten. Und: es wäre bei einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes nicht zu argumentieren, warum dieses in Folge, wenn die Krise überwunden ist, „wieder auf 50%, 55% abgesenkt“ würde (Zib 2, 11.01.2021; Min 11:08).

Halt – wie war das! 50%??? Die derzeitige Nettoersatzrate liegt bei 55% – weit unter dem OECD-Mittel von rund 70% – und ist damit bereits viel zu niedrig. Welche Pläne zeichnen sich hinter dem Versprecher des neuen Arbeitsministers ab, wenn er von einer Absenkung auf eine 50%-Nettoersatzrate spricht?

Wir wissen aus früheren Statements des Ministers, dass er dem deutschen Hartz-IV-Modell durchaus positive Seiten abgewinnen kann (Wiener Zeitung, 20.01.2018) und damit auch dem degressiven Arbeitslosengeld, das derzeit von Türkis-Grün favorisiert wird und bereits unter Türkis-Blau ins Regierungsprogramm Eingang fand. Dieses sieht – ähnlich wie Hartz IV – vor, dass die Bezüge zu Beginn erhöht und in der Folge gekürzt werden. Damit sollen Anreize geschaffen werden, eher einen Job anzunehmen. Damit Arbeitslose spüren, dass sie „ungerechtfertigt dem Staat auf der Tasche liegen“ – obschon es sich doch beim Arbeitslosengeld um eine Versicherungsleistung handelt –, spricht sich Kocher bei Arbeitslosigkeit auch für einen „Vermögensregress“ (Wiener Zeitung 2018) aus. Das würde aus seiner Sicht für mehr Gerechtigkeit sorgen. Sieht man sich die Einkommenslage Arbeitsloser an, die überwiegend mit einem Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle auskommen müssen, wären wohl nicht viele Arbeitslose von diesem Regress betroffen. Doch: warum stellt sich ein Arbeitsminister, der für einen Vermögensregress bei Arbeitslosen eintritt, zugleich gegen Vermögenssteuern?

Ideologisch lässt sich das alles nur so rechtfertigen, dass davon ausgegangen wird, dass Menschen freiwillig arbeitslos sind und nur dann einen Job annehmen, wenn sie aufgrund ihrer prekären Lage dazu gezwungen sind. Wie das vor dem Hintergrund von derzeit 520.000 Arbeitslosen und 50.000 offenen Stellen zu begründen ist, da bleiben uns die Regierung und der neue Arbeitsminister die Antwort schuldig. In Kauf genommen wird, dass durch ein degressives Modell der Niedriglohnsektor massiv ausgeweitet wird. Effekt ist, dass nicht nur Arbeitslose von ihrem Einkommen nicht mehr leben können, sondern auch jene, die im Niedriglohnsektor mit schlechten Arbeitsbedingungen und geringem Lohn abgespeist und damit von Sozialleistungen abhängig werden. Auch die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer_innen für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen wird damit massiv geschwächt. Kocher lehnt daher auch einen Mindestlohn ab, der dazu führen würde, dass zu viele Arbeitsplätze verloren gingen (Wiener Zeitung, 2018).

Derzeit ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen, die durch ein degressives Modell massiv unter Druck geraten, besonders hoch. Zum Jahreswechsel waren 171.191 Menschen seit mehr als zwölf Monaten arbeitssuchend gemeldet. Betroffen sind weiterhin überwiegend über 55-Jährige mit geringer Ausbildung und junge Menschen unter 25 Jahren. Unter dem Eindruck der Krise ist jedoch auch der Anteil der Personen im Haupterwerbsalter (zwischen 25 und 44 Jahren) um 31% gestiegen (Momentum, 06.01.2021). Diese Menschen werden es besonders schwer haben, überhaupt wieder eine adäquate Arbeitsstelle zu finden.

Für diese Menschen hat die Regierung auch wenige Antworten, denn Kocher lehnt beispielsweise auch Fördermaßnahmen, wie etwa die Beschäftigungsaktion 20.000 ab, durch die für Langzeitarbeitslose über 50 Jahren durch die öffentliche Hand Arbeitsplätze bei Gemeinden, gemeinnützigen Organisationen und bei Sozialunternehmen geschaffen wurden (Wiener Zeitung, 20.01.2018). Dabei zeigt selbst die IHS-Studie zu den fiskalischen Effekten der Aktion 20.000, dass bei besonders vulnerablen Gruppen, wie etwa Frauen ab 55, die Aktion 20.000 positiv bilanzierte. Den sozialen Mehrwert, wie den Erhalt regionaler Infrastruktur durch die Schaffung öffentlicher Arbeitsplätze und die positiven gesundheitlichen und psychischen Effekte für Langzeitarbeitslose, stellt die Studie des IHS erst gar nicht in Rechnung.

Mit der derzeitigen Nettoersatzrate von 55% liegt das Einkommen von Arbeitslosen bei durchschnittlich 1.040 Euro bei Männern und rund 870 Euro bei Frauen. Das ist ein Einkommen weit unter der Armutsgefährdungsschwelle (A&W-Blog). Mit diesen geringen Leistungen ist eine Existenzsicherung geschweige denn die Sicherung des Lebensstandards, mit der bestehende Fixkosten wie Miete, Kredite… beglichen werden können, nicht möglich. Es ist mithin kein Zufall, dass Arbeitslosigkeit eine der häufigsten Gründe für Überschuldung ist.

Eine dauerhafte Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf ein existenzsicherndes Niveau ist daher dringend notwendig! Deshalb:
Beteiligt euch an der österreichweiten Aktionswoche! Für eine dauerhafte Erhöhung des Arbeitslosengeldes und ein ökosoziales Investitionsprogramm der öffentlichen Hand zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit!

Aufruf: Aktionswoche Arbeitslosengeld anheben!

Termine:

 

 

Quellen:

Dennis Tamesberger; Iris Woltan (2020): Corona-Krise erfordert Erhöhung des Arbeitslosengeldes; https://awblog.at/corona-erhoehung-arbeitslosengeld/

Der Standard 11.01.2021: András Szigetvari: Dafür steht der neue Arbeitsminister Kocher: Schlanker Staat, Pensionskürzungen, anderes Umverteilen; https://www.derstandard.at/story/2000123193481/dafuer-steht-der-neue-arbeitsminister-martinschlanker-staat-pensionskuerzungen-anders-umverteilen

Dominik Walch, Viktor Dorofeen (2020): Untersuchung der fiskalischen Effekte der Beschäftigungsaktion 20.000, IHS im Auftrag des Sozialministeriums; kohttps://www.bmafj.gv.at/dam/jcr:a9203471-bc3b-4204-8f39-6cefbfa49852/IHS_-_Endbericht_-_Fiskalische_Effekte_der_Besch%C3%A4ftigungsaktion_20_000.pdf

Momentum Institut (2021): Langzeitarbeitslosigkeit: Neuer Rekord verdeutlicht Ausmaß eines alten Problems; https://www.momentum-institut.at/news/langzeitarbeitslosigkeit-neuer-rekord-verdeutlicht-ausmass-eines-alten-problems

Patzricia Huber (2021): Arbeitsminister Kocher für schwarz-blaues Modell: Arbeitslosengeld soll weniger werden; https://kontrast.at/arbeitslosengeld-auszahlung-corona-oesterreich-gruene-kogler-werner/

Wiener Zeitung 2018: Wann ist ein Sozialstaat gerecht? STREITGESPRÄCH Barbara Blaha und Martin Kocher; https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/oesterreich/941971-Wann-ist-ein-Sozialstaat-gerecht.html?em_no_split=1

ZiB 2: Minister Kocher über seine Pläne für den Arbeitsmarkt (11.01.2021)