"Freihandel"

Die gesellschaftliche Basis-Ideologie und ihr Sinn

Freihandel ist zum obersten Wert, zum Hoch-Gott der Eliten geworden. Über ihre Priester, die Intellektuellen und die weniger intellektuellen Journalisten, gelang es ihnen, diese Religion universell zu verbreiten, von Washington über Berlin bis Peking. Eine Debatte darüber findet nicht mehr statt. Selbst Menschen, die sich gutwillig links zu orientieren glauben, fragen auf Einspruch dagegen ziemlich irritiert zurück: Wollt ihr denn wieder Zollmauern, Einfuhrquo­ten, Handelskriege und Grenzkontrollen? Die Schlagworte haben einen ziemlich schlechten Ruf.

Vor fast zwei Jahrhunderten war die („Politische“) Ökonomie auf dem Kontinent und vor allem im deutschen Sprachraum noch eine ziemlich exotische Disziplin. Da hatte es zwar einen Adam Smith gegeben. Von ihm übernahmen alle, die mit der Zeit gehen wollten, sein eindrückliches Glaubensbekenntnis: Freihandel ist gut; Freihandel nützt allen; wir müssen ein Freihandels-System durchsetzen, wenn wir uns so gut und schnell entwickeln wollen, wie die Briten jenseits des Kanals.

  • In einer Publikation des World Economic Forum (2015) liest man: „International commerce is one of the great progenitors of planetary prosperity. The touchstone economics of this result rests on the simple phrase: ‘Do what you do best; trade for the rest!’ … All national outputs and living standards rise…” – Dieser völlig naive und ideologische Zugang ist tatsächlich kennzeich­nend für die mainstream-Ökonomie. Sie steht damit auf dem Stand von 1776. Adam Smith konnte dies vielleicht noch so blauäugig sagen. Aber Herr Prof. Richard Bald­win, der 2015 schreibt, geht mit dieser Wiederholung der Ricardo’schen Ideologie der kompa­rativen Kosten an allen strukturellen Voraussetzungen für die Weltwirtschaft vorbei. Es ist ein wirklich beschämendes Zeugnis intellektuellen Ungenügens.

Es war 1841, als Friedrich List dieser Mode widersprach. Wem nützt der Freihandel eigent­lich? So fragte er nüchtern. Für wen spricht Adam Smith? Die Antwort war verblüffend ein­fach: Freihandel nützt den Starken; den bereits hoch Entwickelten; denen, welche den Welt­handel beherrschen. Es war derselbe Friedrich List, welcher Fürsprecher einer umfassenden deutschen Einheit war und dabei für die Aufhebung der Zollgrenzen und der Handels-Hinder­nisse innerhalb dieses künftigen Staats argumentierte. Denn diesen Staat strebte er mit aller Kraft an. Dieser Staat aber muss seine Wirtschaft entwickeln, aufbauen und regulieren. Der Freihandel ist dabei ein Hindernis, weil er die bereits Starken unterstützt und die Schwächeren behindert.

Adam Smith und Friedrich List und ihre Auseinandersetzung blieben kennzeichnend und aktuell bis in die Gegenwart. Halten wir fest: Der Freihandel und seine Ideologie ist nicht eine Frage des allgemeinen Wohlstands. Er hemmt die Verallgemeinerung des Wohlstands über die Welt. Es ist eine Frage der Entwicklung; ein Problem der Macht; eine Ideologie der polit-ökonomischen Herrschaft.

Vor wenigen Jahrzehnten war dies übrigens unter Intellektuellen und Theoretikern noch ein ziemlich vertrauter Gedanke. Senghaas (1982) und er zusammen mit Menzel (1985) vertraten in teils umfangreichen Büchern beim damals progressiven Suhrkamp-Verlag den Gedanken: Eine „List’sche Perspektive“ sei wieder nötig, eine politische Unterstützung und Steuerung der Entwicklung. Sie dachten dabei nicht nur an die Dritte Welt. Sie sprechen von Europa und seiner Entwicklung. Denn die europäische Entwicklung lief durchaus nicht freihändlerisch ab, wie sie in langen Untersuchungen zeigten. Wenn sie 2018 schrieben, könnten sie als Muster einer regulierten nationalen, allerdings pinochetistischen Entwicklung China anführen. Heute freilich … Ja, da schwärmt man vom „Friedensprojekt“ EU, das „unsere Generation verinnerlicht“ habe!

Wir haben auf der Ebene der Volkswirtschaften, der Wirtschafts-Systeme und Staaten, begonnen. Die Beziehungen zwischen ihnen standen für die damaligen Nationalen und Nationalisten an erster Stelle. Nun müssen wir unterstreichen: Diese Überlegungen können und müssen viel grundlegender betrachtet werden. Wenn die EU, ihre Eliten und deren Wasserträger Freihandel und interne Deregulierung stets in einem Atemzug nennen, so ist dies keineswegs allein ideologische Borniertheit – obwohl wir ihnen die keineswegs absprechen wollen. Die Freihandels-Ideologie ist nichts als die auf den Außenhandel umgelegte Religion des unbegrenzten, sich selbst regulierenden und alles beherrschenden Markts, des Marktes der Starken, nicht zuletzt gegen die Politik der Schwächeren.

Lassen wir für den Augenblick beiseite, dass dies ein Widerspruch in sich ist: Denn der Markt setzt gründlichste Regulierung voraus, und das macht die EU denn auch von Tag zu Tag, und wir kennen die Ergebnisse dieses manchmal überschießenden Regulierungs-Wahns.

Doch den entscheidenden theoretischen Punkt nehmen wir von den Neoklassikern, den Pro­pheten des Neoliberalismus. Wir wollen sie einmal ernst und beim Wort nehmen. Sie behaupten, die Ökonomie konzeptuell von unten her aufzubauen. Sie beginnen bei den Präferenzen der Konsumenten. Diese Präferenzen können natürlich nur wirkmächtig werden, wenn und insoweit sie mit Kaufkraft ausgestattet sind. Die Kaufkraft aber, das Einkommen also, und nicht nur das Vermögen, ist höchst ungleich verteilt. Wenn man Menger, Wieser, Böhm-Bawerk, Walras und Pareto ernst nimmt, ergibt sich daraus, dass es nicht die Präferenzen „der Gesellschaft“ sind, welche da auf dem Markt bestimmen, sondern die Präferenzen der Eliten und vielleicht noch der Oberen Mittelschichten.

Markt bedeutet ein Macht- und Herrschafts-Verhältnis, welches über Besitz und Einkommen läuft. Die Allokation, also der Aufbau der Produktion und ihrer Mittel, die Entwicklung folglich,  muss sich, diesen Konzepten zufolge, entsprechend an die Präferenzen der oberen Schichten halten. Und das tut sie auch, und zwar nicht nur auf dem Markt, sondern auch in der längerfristigen Entwicklung und im sozialen-politischen Ablauf.

Frage an unsere linken Kritiker: Ist das die Gesellschaft, wie ihr sie euch wünscht?

Doch gehen wir zurück zum Freihandel in einem eingeschränkteren Sinn, wie wir begonnen haben.

Marx mochte Friedrich List nicht. Ganz klar ist mir nicht, woher die Abneigung kam. Sie hat wohl mit der Faszination Marx’ durch Adam Smith und noch mehr durch David Ricardo zu tun. Denn beide waren abstrakte Struktur-Denker, und das entsprach dem Denken und der Neigung von Marx. In seiner „Rede über den Freihan­del“ 1847/1848 freilich sehen wir eine merkwürdige Unschlüssigkeit. Er will sich weder für noch gegen den Freihandel aussprechen. Das allerdings, was er am Schluss sagt, war revolutionäre Illusion: „Das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution. Und nur in diesem revolutionären Sinne, meine Herren, stimme ich für den Freihandel“ (458). Friedrich Engels gab diese Rede vier Jahrzehnte später in New York wieder heraus, als in den USA eine Debatte über Schutzzölle und Freihandel stattfand. Er schrieb ein langes Vorwort dazu. Da weist er zuerst nachdrücklich auf den entwicklungspolitischen Aspekt hin. Dann aber wird er, der ehemalige Textil-Unterneh­mer aus Manchester, ganz zum Freihändler, mit Marx’schen Argumenten. „Frei­handel [ist] der Normalzustand der modernen kapitalistischen Produktion“ (362). Und er schließt: „Die Frage über Freihandel bewegt sich gänzlich innerhalb der Grenzen des heutigen Systems der kapitalistischen Pro­duktion und hat deshalb kein direktes Interesse für Sozialisten“ (374). Da möchte ich denn doch widersprechen. Sicher, wir als Linke sind nicht dazu da, den Eliten gute Ratschläge zu geben. Aber nichtsdestoweniger sind wir als politische Menschen gefordert, zu akuten Problemen Stellung zu beziehen und auch unsere Vorstellungen über das, was augen­blicklich aus unserer Perspektive geschehen sollte, zu äußern. Das zentrale Problem spricht Engels gar nicht oder nur völlig unzureichend an. Es ist die Frage nach der politischen Steuerung der ökonomi­schen Verhältnisse. Und die beginnen hier und jetzt, nicht erst in einem Sozialismus ungewissen Datums.

Für die hochentwickelten Länder des Zentrums hat sich die Frage seit diesen mehr als einein­halb Jahrhunderten fundamental geändert. Es geht nicht in erster Linie um Schutz-Zölle und vergleichbare Instrumente, auch wenn Donald Trump diese Instrumente gerade wiederbelebt. Es geht heute erstrangig darum, wer die Wirtschaftssysteme und insbesondere das globale System steuert. Sowohl das moderne Industrie- als auch das neue Finanz-Kapital haben den Ehrgeiz, diese Steuerung selbst direkt in die eigenen Hände zu nehmen. Darum geht es bei den Verträgen, bei CETA, JEFTA und TTIP.

CETA und alle anderen Freihandelsverträge sind Mogelpackungen. Sie sagen Freihandel, meinen aber eine Vernichtung der letzten Kontroll-Möglichkeiten, welche den Nationalstaa­ten im Rahmen der Globalisierung noch verbleiben. Die ökonomischen Eliten wollen auch die Politik direkt übernehmen. Darauf läuft CETA, läuft TTIP und laufen alle anderen bereits geschlossenen und noch beabsichtigten „Freihandels“-Verträge hinaus.

Für jeden Menschen, der sich einmal mit (kybernetischen) Systemen abstrakt und konkret auseinander gesetzt hat, ist eines sonnenklar: Systeme haben Grenzen – das gehört schlicht zur Definition. Für Linke sollte diese Einsicht erst recht gelten, nutzen sie doch nicht erst seit 1968 das Wort System mit großer Vorliebe. Woher kommt dann gerade auf der Linken die allergische Reaktion gegen den Begriff Grenze? Die Hegemonie wirkt offenbar durchschla­gend.

Grenzen sind unabdingbar notwendig, wenn eine politische Kontrolle der Eliten ein wesent­liches Ziel ist. Ist dies denn nicht das politische Ziel schlechthin, sogar der aufrichtigen („Links“-) Liberalen? Die sozio-ökonomischen Systeme – Mehrzahl!! – können nur über politisches Handeln gesteuert und kontrolliert werden. Das eigentliche Problem freilich ist: Wie weit darf oder soll politische Kontrolle gehen? Wo muss sie enden, wenn nicht die Menschen gefährdet werden und eine Despotie verhindert werden soll? Und: Welcher Handlungs-Bereich wird kontrolliert?

Die Neoliberalen wollen den Starken, dem Kapital und den Oberschichten, freie Bahn geben. Dazu muss der Markt als einziger ökonomischer Regel-Mechanismus eingesetzt werden. Aber erinnern wir uns! Thatcher und Reagan stilisierten sich zwar selbst als Liberale, vor allem Thatcher. Aber rundum betrachtete man sie nicht als Neoliberale, sondern als Neokonservati­ve. Sie dachten gar nicht an eine liberale (eine „permissive“) Gesellschafts-Politik. Schauen wir doch in das gelobte Land der Neoliberalen, in die USA! Dort ist diese Kombination von ökonomischer Deregulierung mit strikter sozialer Repression – soweit sie sich durchsetzen lässt – ausgeprägt. „Der Markt“ soll frei sein. Bloß keine Kontrolle! Keine Regulierung des monopolistischen Wettbewerbs! Dass dies in der Praxis nicht so funktioniert, ergibt sich aus den realen Notwendigkeiten und Bedingungen.

Aber umso strikter versucht man, das gesellschaftliche Leben bis ins Private hinein zu kontrollieren. Beides schwappt aus dem Paradies jenseits des Ozeans zu uns über. Eben erklärte eine neue Wiener Stadträtin: Sie wolle die Frauen frei machen, indem sie ihnen gewisse Kleider verbietet.

Wenn wir eine politische Veränderung dieser Gesellschaft wollen, brauchen wir die Werk­zeuge dafür, innen wie außen. Die Oligarchie hat dies recht gut begriffen. Sie räumt also diese Instrumente systematisch und zielstrebig weg. Das ist schließlich die Instrumentalität der EU. Das Schlagwort Freihandel bedeutet dies und nichts Anderes. Antihegemonialer Kampf, und das ist gegenwärtig unser wichtigstes Aktionsfeld, heißt, solche Schlagworte zu dekonstruieren, nicht sie affirmativ zu übernehmen und zu immunisieren.

In diesem Sinn wollen wir den Satz von Marx umkehren: Linke, Progressive Politik bedeutet heute, sich gegen Freihandel und die grenzenlose Macht des Kapitals zu stellen. „Und nur in diesem revolutionärem Sinn, meine [Damen und] Herren, stimme ich“ für den Nationalstaat und seine Grenzen.

 

Engels, Friedrich [1888], Schutzzoll und Freihandel. Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Karl Marx ‚Rede über die Frage des Freihandels’. In: MEW 21, 360 – 375.

List, Friedrich (1982 [1841]), Das nationale System der politischen Ökonomie. Berlin: Akademie Verlag.

Marx, Karl (1977), Rede über die Frage des Freihandels, gehalten am 9. Januar 1848 in der Demokratischen Gesellschaft zu Brüssel. In: MEW 4, 444 – 458.

Senghaas, Dieter (1982), Von Europa lernen. Entwicklungsgeschichtliche Betrachtungen. Frankfurt/M..

Senghaas, Dieter / Menzel, Ulrich (1985), Europas Entwicklung und die Dritte Welt. Eine Bestandsaufnahme. Frankfurt / M.: Suhrkamp.

World Economic Forum (2015), The High and Low Politics of Trade. Can the World Trade Organization’s Centrality Be Restored in a New Multi-Tiered Global Trade System? Geneva: WEF.

 

Das Bild zeigt eine chinesische Festung nach der Einnahme durch britische und französische Truppen während des Opiumkrieges. Dieser wurde unter der Flagge des Freihandels geführt - für westliches Rauschgift. China wollte sich dagegen zur Wehr setzen. Die Niederlage war Teil des historischen Niedergangs, der erst mit der Befreiung unter der Führung der Kommunisten und damit dem Ende des Freihandels rückgängig gemacht werden konnte.

 

Albert F. Reiterer, 8. Juni 2018