Historiker - Geschichte - Hegemoniale Ideologie

Wie unsere Gesellschaft ihre Entwicklung nicht „bewältigt“

Erich Zöllner war Professor für Österreichische Geschichte an der Universität Wien. Manche seiner Kollegen bewunderten ihn sehr, nicht zuletzt wegen der Datenfülle in seinem Gedächt­nis. Mit seiner „Österreichische Geschichte“ wurden Generationen von Lehramts-Studenten aufgezogen und in die Schulen entlassen. Dort haben sie dann diese Haltung an die arglosen Schüler weiter gegeben. Es ist also wert, einen kurzen Blick auf seine Einstellung zu werfen.

Es war im Sommer 1984. Ich beabsichtigte, mich in Innsbruck in Politik zu habilitieren, und zwar über die Frage des Nationen-Aufbaus. Insbesondere interessierte mich dabei auch die Nation Österreich. Neben einer empirischen Repräsentativ-Untersuchung zum Österreich-Bewusstsein galt mein Blick der Rolle von Intellektuellen in der österreichischen Geschichte. So hatte ich u. a. einen Aufsatz über Deutschnationale Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben. Den bot ich ÖGL („Österreich in Geschichte und Literatur“) an, einer Zeitschrift, die insbe­sondere an Lehrer in Höheren Schulen gerichtet war. Zu meinem Erstaunen bat mich Zöllner, damals Herausgeber dieses Journals, zu sich. Er wollte mit mir Details besprechen, die ihm verbesserungswürdig dünkten. Ich nahm gerne an.

Nach einer Reihe nützlicher Hinweise kamen wir an eine Stelle, an der Zöllner sichtlich erregt wurde. Ich hatte da sinngemäß geschrieben: 1866 – 71 begründete Bismarck unter dem Deck­mantel der deutschen Nation sein preußisch-deutsches Reich. „Unter meiner Verantwortung wird so was in dieser Zeitschrift nicht stehen!“ Ich muss beschämt zugeben: Ich beugte mich, weil ich den Aufsatz erscheinen lassen wollte. Dabei hätte es genug Argumente gegeben, auch in Österreich veröffentlichte. Schausberger (1979, 19) berichtet etwa über einen Referenten des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg einige Jahrzehnte später. Kurt Riezler schrieb: „Ges­tern [1915] lange mit dem Kanzler zusammen gesessen… das Deutsche Reich eine AG mit preußischer Aktienmajorität … um das Reich herum ein Staatenbund, in dem das Reich eben­so die Majorität hat wie Preußen im Reich – daher denn Preußen auch im Staatenbund die tatsächliche Leitung hat … die europäische Verbrämung unseres Machtwillens…“

Zöllner, der Professor für österreichische Geschichte und als solcher gerade von den Konser­vativen hoch geschätzt, war also in seinen Denk-Grundlagen ein ganz gewöhnlicher Deutsch­nationaler, welcher die an den Universitäten herrschende „deutsche“ Ideologie an die künfti­gen Lehrer weitergab und so die heimliche „deutsche“ Hegemonie verewigen half. In Wiki­paedia lesen wir: „Zöllner gehörte zu den einflussreichsten und bedeutendsten Historikern Österreichs im 20. Jahrhundert. Sein bekanntestes Werk ist die Geschichte Österreichs. Von den Anfängen bis zur Gegenwart.“ Felix Kreissler (1980) hat seinerzeit darauf verwiesen, wie diese Haltung schon einmal half, das selbständige Österreich zu zerstören.

Histörchen und Episoden? Nun, bringen wir noch ein Beispiel, das wahrscheinlich im „Reich draußen“ mehr Eindruck macht.

Theodor Mommsen hat seine „Römische Geschichte“ ab 1852 geschrieben. Das muss man positiv wissen. Denn wenn man den Text liest – neu herausgegeben im Jahr 1976! – , würde man sonst glauben: Da hat Bismarck einen Ideologen gefunden. Es ist Bismarckianismus vor Bismarck. Dem widerspricht nicht im Mindesten, dass Mommsen später, in seiner Zeit als Abgeordneter erst zum preußischen Abgeordnetenhaus und dann im Reichstag mit Bismarck in Konflikt kam. Als ambitionierter Philosophen-König wollte er, dass der Politiker nach seinem Willen handelte. Und der Politiker wollte es natürlich umgekehrt.

Von römischer Geschichte versteht man nach der Lektüre nicht unbedingt mehr als vorher. Mommsen ist geschwätzig. Er ist ein Populärschriftsteller für das damalige „gebildete“ Bür­gertum. Das gesteht sogar sein Bewunderer und Neuherausgeber Karl Christ zu: „Die ‚Römi­sche Geschichte’ ist ein ungewöhnlich subjektives Werk, zugleich aber die Auseinanderset­zung einer Generation des deutschen Bürgertums mit der Geschichte Roms“ (VIII, 62). Be­kommt man bei Fustel de Coulange (1996) zwei Jahrzehnte später trotz dessen ausgeprägt idealistischen Zugangs eine ferne Ahnung, wovon es sich gehandelt haben könnte, so ist dieses so berühmte Werk Mommsens ein sehr langes politisches Pamphlet. Der Nationallibe­rale will den deutschen Nationenbau, und er kann ihn sich nur autoritär vorstellen, durch einen Großen Mann, einen Neuen Caesar. Dabei erweist er sich als lausiger Historiker, jeden­falls, wenn man sich unter Geschichte mehr vorstellt als das überaus ausführliche Abschrei­ben von alten Quellen. Ein anderer Historiker seiner Zeit hat gesagt: „Ein Mensch dagegen, wie Mommsens Caesar, hat überhaupt niemals existiert“ (E. Meyer, a. a. O., 45). Die Trans­formation der römischen Herrschaft von einer graeco-etruskischen Polis über eine italische Flächen-Hegemonie zum Imperium, zur archaischen („orientalischen“) Despotie stellt sich für ihn als Aufbau eines italischen Nationalstaats dar. Er benutzt auch ständig den Begriff Nation, wobei nicht völlig klar ist, was er eigentlich meint. So ist es denn auch kenn Wunder, wenn er konsequent von den „Deutschen“ (!!) spricht, wenn er Germanen (?) – das ist selbst schon ein äußerst fragwürdiger Begriff! – meint. Allerdings ist er nicht konsequent genug, die Römer auch Italiener zu nennen. Das hat erst Mussolini auf umgedrehte Weise vollbracht.

Es ist dann nur folgerichtig, dass er, wie fast alle deutschen Akademiker, den preußischen Raub von Elsass-Lothringen rechtfertigt, und zwar mit den kennzeichnenden Worten: „Wir wollen nur das, was uns gehört, nicht mehr und nicht weniger“ (Mommsen 1870). Was die Elsässer wollten, steht nicht zur Debatte.

Wenn bei irgend jemand, dann gilt bei Mommsen: Der Stil ist der Mensch! Es wimmelt von epitheta ornantia, die viel über ihn selbst verraten, aber nichts über seinen Gegenstand. Eines seiner Lieblingsworte ist schlaff. Schlaff ist der römische Senat gegen seine Gegner; schlaff sind die meisten Konsuln – nicht allerdings Sulla, die blutigste Figur der römischen Geschich­te, die er sehr bewundert; und natürlich nicht Caesar. Heute fragt man sich ständig: Wie kam der enorme Erfolg dieses Werks zustande? In gewissem Sinn erklärt uns einer seiner großen Ehrungen dies: 1902 gaben ihm die Schweden den Literatur-Nobelpreis. Er hat die Stimmung der Bildungsbürger seiner Zeit offenbar voll getroffen – und nicht nur seiner Zeit, siehe Neuausgabe.

Aber was streunen wir in der Vergangenheit herum? Kommen wir in die unmittelbare Gegen­wart. An der Universität Graz, in der Stadt der Volkserhebung, wäre die Zeitgeschichte neu zu besetzen, nachdem Helmut Konrad emeritiert wurde; „ordentliche“ Professoren gehen ja nicht in Pension. Das wäre denn doch zu plebeisch, sie emeritieren mit vollem Gehalt. Und nun passiert etwas, was kennzeichnender nicht sein könnte, für die Geschichte, aber für die akade­mische Welt in Österreich ganz allgemein. Auf dem Besetzungsvorschlag finden sich sechs Deutsche, teils recht zweifelhafter Qualifikation, kein/e einzige/r Österreicher/in! Darauf tritt einer der Gutachter, der US-Niederländer Pieter Judson, zurück, weil hier das Prinzip der Kompetenz mit Füßen getreten werde. Die Rektorin unterbricht daraufhin den Berufungsvor­gang. Vorher aber meinte sie noch: Auch in der Zeitgeschichte dürfe der „Blick auf eine inter­nationalisierte Welt nicht verloren gehen“ – also implizit: Die Österreicher sind ja alle Pro­vinzler. Wie kommt es zu solchen Geschehnissen? Wir sind geneigt, sofort der sklavischen Abhängigkeit österreichischer Intellektueller von der BRD die Schuld zu geben. Diesmal ist es aber noch einfacher. An der Univ. Graz ist der Anschluss schlicht und einfach vollzogen. Die Rektorin hat noch das Bedürfnis richtig zu stellen: Es seien nicht 30 von 33 Professuren deutsch besetzt. Von 35 Professoren seien nur 19 Deutsche und sechs weitere sonstige Nicht­österreicher.

Aber hier müssen wir nochmals kurz zurück schauen. Als Ludwig Jedlicka pensioniert, pardon: emeritiert wurde, wollte die damalige Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg unbedingt Hans Mommsen – ja, ein Nachkömmling des besagten Theodor, ein Urenkel – als Nachfolger, obwohl dieser von österreichischer Geschichte offenbar nichts verstand. Aber damals lief es anders. Insbesondere der Mittelbau an der Wiener Uni wollte Erika Weinzierl, die der Ministerin nicht zu Gesicht stand. Denn die Sozialdemokratin meinte, ein deutscher sei natürlich viel besser qualifiziert als eine Österreicherin. Wie es weiter lief, weiß ich im Detail nicht mehr. Aber jedenfalls tricksten die Assistenten damals die Ministerin aus, und Weinzierl wurde Professorin in Wien; und sie wurde zu einer der wenigen akademischen Persönlichkeiten, welche eine österreichische Position vertraten.

Die Folgerung

Es sind nicht nur Histörchen. Hier zeigt sich die Funktion von Geschichts-Darstellung, von Historiographie, in voller Deutlichkeit. Sie war und ist bis in die Gegenwart nicht hauptsäch­lich historische Sozialwissenschaft. Sie ist politische Ideologie, und dies umso stärker, je weniger sie einen analytischen Charakter trägt.

Genau diese Historiographie aber hat heute speziell in Österreich die Arroganz, ständig die „Bewältigung“ der jüngeren österreichischen Geschichte zu beanspruchen. Da werden Histo­riker-Kommissionen gebildet. Sogar die FPÖ stellt jetzt eine zusammen, unter der Führung solcher Personen wie des Lothar Höbelt, auch ein Professor der Univ. Wien. Dabei ist sie völlig außerstande, einen selbstkritischen Blick auf die eigene Fachgeschichte zu werfen. Ja, sicher: Sie kann aufzählen, wer seinerzeit bei den Nazis Partei-Mitglied war. Selbst da ist sie streckenweise ziemlich jämmerlich, wenn man zufällig über die eine oder andere Person Bescheid weiß (Appelt / Reiterer 1990). Aber sie ist völlig außerstande, die epistemologi­schen, man könnte besser und verständlicher sagen: die ideologischen Grundlagen des eigenen Fachs zu dekonstruieren. Ja, selbst die Idee dazu scheint den meisten Historikern aus der Welt.

Dabei ist die Angelegenheit so ironisch, dass man oft nicht weiß: Sind diese Leute Zyniker, welche eben doppelte Maßstäbe haben? Oder verstehen sie die eigene Basis wirklich nicht? Die gesamte Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und zudem noch die Geschichte des Mittelalters wird als Nationalgeschichte abgehandelt. Selbst für die Antike finden wir immer wieder den Begriff „Nation“ selbst in Neuerscheinungen. Aber gleichzeitig stilisieren sie sich als Antinationalisten, als Menschen, welche die böse Nation nun endlich überwunden haben und eine globale Sichtweise pflegen. Das läuft ganz parallel zu vielen Historikern und An­thropologen in der anglo-amerikanischen Welt. Die trauen sich zwar nicht mehr, von „Rasse“ zu sprechen und sagen statt racial „ethnic“. Aber unter diesem Begriff kommt dann der ganze nicht reflektierte Biologismus und Rassismus hoch…

Intellektuelle sind die Ideologen der Gesellschaft und haben darüber hinaus meist auch einen politischen Ehrgeiz – siehe Gramsci 1971 / 1975. Es gibt unter ihnen verschiedene Klassen und Abteilungen. Politisch-praktisch sind gegenwärtig die Ökonomen so hegemonial, dass man eigentlich von Dominanz sprechen muss. Die längerfristige ideologische Hegemonie, die „Weltanschauung“, hingegen ist etwas umstrittener. Im gewöhnlichen Zeitungs-Alltag sind es eindeutig die Biologen und insbesondere die Genetiker, welche die Oberhand haben. Sie müs­sen uns erklären, dass die Menschen eben ungleich geboren sind und daher Gleichheit ein unmögliches Ziel ist. Dem steht schon das Armuts-Gen, oder das Alkohol-Gen, oder das Intelligenz-Gen, oder … entgegen.

Wenn es aber um die Regulierung politischer Ideologie und Hegemonie geht, treten mit viel Aplomb die Historiker auf die Bühne. Sie sind die eigentlichen Beauftragten der Herrschen­den und der politischen Klasse. Nicht dass Soziologen und Politikwissenschafter dies in ihrer Mehrzahl nicht auch gern täten. Aber da haben sich vor wenigen Jahrzehnten einige kritische Geister zu sehr vorgewagt. Seit der Studenten-Revolte traut man ihnen zumindest in Europa nicht mehr. Auch und gerade in Österreich, das ja von „1968“ kaum berührt wurde, werden sie von Alt- und auch von Neokonservativen jeder Schattierung misstrauisch betrachtet:

„Polito- und Soziologen / haben viele schon betrogen“

reimte seinerzeit der Kärntner Heimatdienst, als es einige wagten, „seine“ Historiker, etwa den Altnazi Wilhelm Neumann, in der Zweiten Republik, nach der Entnazifizierung“ im Lager Wolfsberg, Landesarchiv-Direktor und Sozialdemokrat, in Frage zu stellen.

Diese Typen gibt es noch, vor allem in den Bundesländern. Aber heute haben die meisten gewendet. Sie sagen statt deutsch „europäisch“. In Österreich haben sie offenbar ein besonders leichtes Spiel.

Ein „Haus der Geschichte“ in Wien müssen wir unter diesen Erfahrungen außerordentlich skeptisch betrachten. Es kann praktisch nur ein Haus der Ideologie werden, und die ist heute globalistisch. Nicht nur im alten China war Geschichtsschreibung von Hof und Staat striktest kontrolliert und reguliert. Handelte es sich doch um die Formulierung der erwünschten Ideo­logie. In der Entstehung der neuen Geschichtsschreibung wird uns immer Leopold von Ranke als „Vater der Geschichte“ entgegen gehalten. Und was war er? Er war ganz offiziell seit 1841 „Historiograph des Preußischen Staats“. Kann man die Funktion von Geschichte deutlicher kennzeichnen?

Einige Literaturverweise

Appelt, Erna / Reiterer, Albert F. (1990), Ein Dorn im Auge. Adam Wandruszka holt seine Vergangenheit ein. In: ÖZG 3, 99 f.

Gramsci, Antonio (1971), Quaderni del carcere. Introduzione di L. Gruppi. Roma: Riuniti (6 vol. – “Volksausgabe”); bzw. Gramsci, Antonio (1975), Quaderni del carcere. Edizione critica dell'Istituto Gramsci. A cura di V. Gerratana. Torino: Einaudi.

Kreissler, Felix (1980), La prise de conscience de la nation Autrichienne. 2 vol. Paris: PUF.

Mommsen, Theodor (1870), Agli Italiani. Firenze: Civelli.

Mommsen, Theodor (1976), Römische Geschichte. 8 Bde. München: dtv.

Zöllner, Erich (1961, 19908), Geschichte Österreichs. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wien: Verlag für Geschichte und Literatur.

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