Was ich als Seestädterin gelernt habe

Hilde Grammel, Mitglied der KPÖ, zeichnet ihren persönlichen Lernprozess hinsichtlich Autobahnen auf der Kundgebung "S-Bahn statt Lobau-Autobahn" am 5.10.21 in der Seestadt nach:

Ich spreche hier als eine von vielen SeestädterInnen, die die S1-Spange/Stadtstraße und die Lobau-Untertunnelung nicht brauchen, um hier zu leben. Dazu muss ich sagen, dass ich über 30 Jahre lang im Hamsterrad gearbeitet und dieses gesundheitlich geschädigt verlassen hab. Alleine das ist ein Grund, das eigene Leben zu überdenken.

Hier und heute will ich meinen ganz persönlichen Lernprozess in der Frage der Autobahnbauten nachzeichnen. Ich entschuldige mich dafür, dass die Auflistung höchst unvollständig ist, dies sowohl was die Personen als auch was die Inhalte betrifft.

Von der BI Rettet die Lobau gelernt: Der Tunnel unter der Lobau ist nicht umweltschonend, sondern schädigt die Grundwasserflüsse, weil er wie eine Staumauer wirkt. Und beim Ölhafen werden durch die Tunnelröhren Spundwände geöffnet, die von Bombardierungen aus dem 2. Weltkrieg stammende Altlasten freisetzen könnten. Deren Sicherung ist technisch schwer zu bewerkstelligen, von den Kosten ganz zu schweigen.

Die BI Hirschstetten retten hat mir die Dimensionen von S1-Spange und Stadtstraße und den Eingriff in die Lebensqualität der Menschen vor Augen geführt, durch deren Wohngebiete die vierspurige Stadtstraße führen würde. 

Durch meine Teilnahme an den UVP-Verfahren zur S1-Spange (nördlich der Seestadt) habe ich gelernt, dass S1-Spange und Stadtstraße ursprünglich e i n Projekt waren, das aber in zwei geteilt werden musste, um überhaupt eine Chance zu haben, die UVP zu bestehen. Ich habe befangene Gutachter gesehen, die um künftige Aufträge bangen müssen, sollten sie keine Gefälligkeitsgutachten abgeben. Ich habe das Machtungleichgewicht erlebt, wenn Bürger-Initiativen sich bei Gericht Gehör verschaffen wollen: Es fehlt ihnen an Zeit, an Geld für RechtsanwältInnen, an Bereitschaft der Gegenseite, auf Augenhöhe zu kommunizieren. Auch blieb die Frage unbeantwortet, ob das Verkehrskonzept der Seestadt (20% Autoverkehr, 40% Öffi-Verkehr, 40% Fußgänger- und RadfahrerInnen) aufrechterhalten werden kann, wenn die Zu- und -abfahrten von der S1-Spange gebaut werden, die direkt in die Seestadt und aus dieser hinaus führen.

Von der Umweltorganisation Virus habe ich gelernt, dass Uweltverträglichkeitsprüfungen nur höchst unzureichende Instrumente sind, die tatsächliche Umweltverträglichkeit von Bauvorhaben festzustellen, z.B. sind Bodenverbrauch und Klimaschutz keine Kriterien.

Von den Wissenschaftler*innen des „Forums Wissenschaft und Umwelt“ habe ich gelernt, dass Autobahnen niemals Verkehr reduzieren, sondern neuen anziehen. Sind Autobahnen einmal gebaut, werden sie auch befahren. Und andersrum: Werden Öffi-Infrastruktur und Radnetz ausgebaut, werden diese auch genutzt. Und ich habe von ihnen gelernt, dass wir in unseren Entscheidungen heute Systemzusammenhang und Zeithorizont bedenken müssen. Es geht nicht an, dass wir so tun als wären wir die letzten Menschen auf der Erde. Es braucht regionale Produktion von Lebensmitteln und Gütern des alltäglichen Verbrauchs anstatt großstädtischer Ballungsräume, deren Versorgung nur durch hypertrophische Verkehrswege zwischen ihnen gewährleistet werden kann. Es braucht eine „integrierte Stadt“, d.h., eine Überwindung der Trennung von Arbeitsplatz und Wohnen. Ich habe gelernt, dass mit Großbauprojekten, wie den in der Donaustadt geplanten, nicht Menschen beschäftigt werden, sondern Maschinen, d.h., es werden keine Arbeitsplätze geschaffen. Ich habe auch gelernt, dass es möglich ist, Politik so zu machen, dass der Besetzungsgrad von Autos in kurzer Zeit erhöht werden kann, d.h., nicht mehr nur ein Mensch fährt mit dem Auto zur Arbeit, sondern es werden Fahrgemeinschaften gebildet. Dann reichen die vorhandenen Donauquerungen aus.   

Von den Aktivist*innen von Fridays for Future, von System Change Not Climate Change, Extinction Rebellion und Jugendrat habe ich gelernt: Wofür sie streiten ist ein Recht auf Zukunft und was dies konkret bedeutet. Ich habe gelernt, dass Menschen mit niedrigen Einkommen, die ohnehin meist kein Auto fahren, von den Auswirkungen der Klimakrise am meisten betroffen sind. Nicht nur zahlen sie dafür mit Geld – z.B., wenn die Klimaziele nicht eingehalten werden, wenn die Asfinag für den Bau der Autobahnen Kredite aufnimmt, für die letztlich die Steuerzahler*innen zahlen, wenn die Stadt Wien eine halbe Milliarde Euro für Werbung für die Stadtstraße ausgibt, aus unserem Steuergeld – sondern sie zahlen auch mit ihrer Gesundheit, weil sie durch Lärm- und Abgase betroffen sind und sich keine ruhige Wohnung im Grünen leisten können. Durch fehlende öffentliche Verkehrsinfrastruktur werden v.a. Menschen mit niedrigen Einkommen von der Mobilität ausgeschlossen. Statt Milliarden den Profiteuren von Bau- und Autokonzernen in den Rachen zu werfen braucht es Investitionen in sozial-ökologische Bereiche wie Bildung und Pflege. Auf wessen Seite steht hier die SPÖ, die Partei der Arbeitenden, die sie vorgibt zu sein?   

Und, last but not least, von der Natur habe ich gelernt, dass sie mit Überschwemmungen reagiert, wenn der versiegelte Boden die starken Regenfälle nicht mehr aufnehmen kann, so wie im letzten Sommer.   

Es braucht einen Systemwandel, der sich auf die möglichen Alternativen konzentriert und nicht die Politik aus dem Jahr 1972 fortsetzt, als der Bedarf an der Lobau-Autobahn gesetzlich festgeschrieben wurde. Das zu ändern erfordert eine einfache Mehrheit im Parlament.

Ihr seht, ich habe in kurzer Zeit viel gelernt, aber noch viel mehr gibt es zu lernen. Ich lade alle interessierten Seestädter*innen ein, ihren eigenen Lernprozess zu beginnen und mich auf meinem zu begleiten. Informationsmaterial in Form von Videos und Texten habe ich genug und stelle es gerne zur Verfügung. Dasselbe gilt für meine Zeit. Ich lade euch auch alle dazu ein, mit mir das Klima-Protest-Camp in der Anfanggasse und die Baustellen bei der Hausfeldstraße und der Hirschstettner Straße zu besuchen, Lebensmittel und Sachen hinzubringen, die gebraucht werden, die Aktivist*innen kennenzulernen und zu verstärken.

Die Lobauer Erklärung, die heute in einer Pressekonferenz aus der Taufe gehoben wurde, findet ihr am Infotisch, eine Unterschriftenliste ebenfalls.

Und ganz wichtig: Sollte die Polizei Anstalten machen das Protest-Camp zu räumen, müssen viele von uns ganz schnell vor Ort sein und dies verhindern!

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